Kammergarn, der jetzt ebenfalls zum ersten Mal die Witwe zu Gesicht bekam, hatte sich als Erster wieder gefasst. Fribbel starrte die Frau immer noch mit offenem Mund an. Als sie angefangen hatte zu sprechen, war ihm mit einem lauten Knacken der Kiefer heruntergeklappt, und er hatte das Gefühl, ihn nun nicht mehr aus eigenem Antrieb schließen zu können. Zum Glück klopfte ihm Kammergarn jetzt auf die Schulter, so dass die Lade wieder einrastete.
„Könnte man so sagen! Obwohl ich hoffe, dass es in Ihrer Armee mit den hierarchischen Strukturen nicht so genau genommen wird!“, antwortete schließlich der Impresario.
„Da habts recht. A Hierarchie brauchts net überall!“, entgegnete die Witwe und fuhr dann in einer etwas gequält klingenden, kontinentalen Hochsprache fort: „Hierarchien sind wirklich nicht immer das adäquate Mittel, wenn es darum geht, sich anderer, ähnlich strukturierter Banden zu entledigen, wie war noch der Name?“
„Kammergarn, Gnädigste, Jonathan Kammergarn!“ Der Dicke trat einen Schritt nach vorne, nahm die Rechte der Witwe und drückte sich den Handrücken gegen die Lippen.
„Ah, ein wirklicher Gentleman, wie ich sehe“, bemerkte die Dame schmunzelnd mit einer Stimme, deren Bassanteile die Bretter der Wandverkleidung zum Vibrieren brachten. „Und wie steht es mit Euch?“
Da das Schulterklopfen anscheinend nicht völlig ausgereicht hatte, um Fribbel aus seiner Versteinerung zu erlösen, drückte Kammergarn jetzt dem Sergeanten noch den Ellbogen in die Seite.
„Äh, Fribbeldropp, Sergeant Fribbeldropp“, brachte der junge Mann dann endlich mühsam zwischen den Lippen hervor.
„Sergeant, ein ungewöhnlicher Vorname, möchte ich meinen?“, bemerkte die Witwe Zimmerschreck und fügte hinzu. „Na ja, ich heiße eigentlich Circumstantia, das ist auch nicht gerade erstrebenswert.“
„Äh, ich ...“, wollte Fribbeldropp einwerfen.
“Schon gut, schon gut. Ich bin mir der Scheußlichkeit dieses Namens durchaus bewusst!“, unterbrach die Witwe Fribbeldropp. „Ich bin eigentlich nur gekommen, um mir unsere Neuzugänge einmal zu besehen.“
„Ich wollte sie gerade mit dem geheimen Pfad in die Stadt bekannt machen, Witwe“, mischte sich jetzt Pampfnagel ein.
„Nur koa Umständ, äh, nur keine Umstände“, meinte die Frau, ganz wie du willst, Schmied. Du legst doch immer noch deine Hände ins Feuer für die Neuen, nehme ich an?“
„Selbstverfreilich Witwe, soll ich schon mal ...?“, Pampfnagel hielt die Hände über der Glut seiner Esse ausgebreitet, als wolle er sich wärmen.
„Das wird wohl nicht nötig sein, du Spaßvogel. Ich bin dann wieder weg! Pfiati miteinand!“ Und schon war die imposante Gestalt der Witwe Zimmerschreck aus der Werkstatt hinausgerauscht, nicht ohne Fribbeldropp und Kammergarn noch mit einem ernsten, abschätzenden Blick bedacht zu haben.
„Puh, das war also die Witwe!“, meinte nach einer kleinen Weile der Sergeant, „ich kann langsam verstehen, warum diese Person hier das Kommando hat!“
„Eine wunderbare Frau!“, seufzte Kammergarn und dieses Seufzen ließ in Fribbeldropp die Ahnung aufkommen, der Impresario bevorzuge anscheinend Frauen mit einer gewissen Ausstrahlung.
„Na dann, machen wir uns mal auf. Ich muss euch beiden doch noch zeigen, wie man ohne befürchten zu müssen, von der Garde kontrolliert zu werden, nach Hallgard hineinkommen kann.“
Pampfnagel lief aus dem Gebäude hinaus und ging mit großen Schritten dann die kleine enge Gasse entlang, die gleich neben den Ställen in Richtung der westlichen Stadtmauer führte. Kammergarn und Fribbeldropp konnten kaum mit dem Tempo mithalten, das der Schmied vorlegte, die Hurveniks waren nach kurzem Überlegen, einfach ungefragt in die Manteltaschen des Impresarios geschlüpft. Pampfnagel hatte der Witwe nichts von der Anwesenheit dieser kleinen Gesellen mitgeteilt, immerhin war die Witwe trotz ihres burschikosen Auftretens schließlich eine zarte Dame, und er war sich nicht ganz sicher, wie sie die Existenz dieser zauberischen Sagengestalten aufnehmen würde. Allerdings war er sich durchaus darüber im Klaren, ihr in dieser Beziehung noch reinen Wein einschenken zu müssen.
In der Abenddämmerung überquerten die drei nun ein Holzbrückchen, das über einen schmalen, friedlich dahinplätschernden Bach namens Grinzel führte. Das Gewässer würde ein, zwei Meilen, nachdem es unter der Befestigungsanlage hindurch die Stadt verlassen hatte, schließlich in den Trensel münden, wusste Fribbeldropp. Sie befanden sich jetzt an der Rückseite der Häuser und konnten über Zäune und Hecken hinweg die Hintereingänge der Gebäude sehen. Die einzelnen Gärten streckten sich bis zum Grinzelbach hinunter, so konnte man mühelos in der Sommerhitze die Pflanzen wässern. Auf der anderen Seite des Bachs erhob sich ein großes halbverfallenes Gemäuer in den Himmel. Es musste sich um ein ehemaliges Fabrikgebäude handeln, so wirkte es zumindest auf Kammergarn.
Wirklich war hier, vor ein paar Jahren noch, eine große Schreinerei beheimatet gewesen, die Balken, Sparren und Bretter für den Hausbau anfertigte. Mit damals modernen Maschinen war das Material zersägt und in die richtige Form gebracht worden. Die Sägen wurden von Wasserkraft angetrieben, die durch die Aufstauung des Grinzelbachs zu diesem Zweck genutzt worden war. Nur noch spärliche, verfaulte Reste waren vom Wehr und den Mühlrädern übriggeblieben. Die Zeit war über diese Technik schon hinweggegangen. Jetzt schnitt man das Holz außerhalb der Stadt auf einem weitaus größeren Gelände und benutzte zu diesem Zweck riesige Dampfmaschinen, die auch dann zu arbeiten in der Lage waren, wenn im Sommer der Bach beinahe ausgetrocknet war.
Durch das, was einmal eine größere Halle gewesen sein mochte, schritten jetzt die drei Menschen, die Hurveniks lugten aus Kammergarns Manteltaschen, da hier nicht zu erwarten war auf jemanden zu treffen. Eine Seite des Gebäudes musste vor einiger Zeit das Opfer eines Feuers gewesen sein. Rechts waren die Balken des Fachwerks schwarz verkohlt, nur noch Reste des Mauerwerks waren zu erkennen, das irgendwann weggebrochen sein musste. Man hätte von den Gärten der Anlieger aus in das alte Gebäude blicken können, hätte nicht Mutter Natur mittlerweile dafür gesorgt, dass die Sicht von allerhand wild wucherndem Gestrüpp verdeckt war. Auch ein Teil des Daches war schon eingestürzt, auf der andern Seite jedoch lagen noch ausreichend Ziegel obenauf, so dass zu befürchten war, dass manchmal einer ins Rutschen kommen würde, um auf dem Boden zu zerschellen. Kammergarn blickte besorgt nach oben, wo durch einzelne Löcher das dämmerige Sonnenlicht hinunterstrahlte.
Schließlich kamen sie an eine stabil hochgemauerte, backsteinerne Säule, hier musste sich der Kamin des Gebäudes befunden haben, dachte Kammergarn, und wirklich sah es so aus, als ob man hier ein enormes Feuer hatte entfachen können. Jetzt lag in der Brennkammer nur allerlei Unrat; zerdepperte Dachziegel, rostzerfressene Töpfe und Bauschutt.
Pampfnagel ging direkt in den Kamin hinein, dazu musste er sich nur ein klein wenig bücken, so groß war der Eingang. Hier hatte man kein Kleinholz machen müssen, um es gemütlich warm zu haben. Es hätten auch meterlange Scheite bequem hineingepasst. Der Schmied trat mit seinen festen Stiefeln den Unrat beiseite, beugte sich dann nach unten und zog ächzend eine stählerne Klappe in die Höhe, an der ein eiserner Ring befestigt war. Eine metallene Treppe führte hinab in die Unterwelt von Hallgard.
Unten angekommen fand Pampfnagel in einer Mauernische Teerfackeln vor, die er mit Streichhölzern, die dort ebenfalls gelagert waren, entzündete. Gespenstische Schatten hasteten über die Wände des Ganges, der so eng war, dass keine zwei Personen nebeneinander hergehen konnten. Kammergarn und Fribbeldropp hatten den Eindruck, als würde ihr Weg niemals enden, allerdings brauchten sie in Wirklichkeit nur etwas mehr als zwanzig Minuten bis sie hindurch waren. Längst hatten Lehmwände die Steinmauern ersetzt, dann wieder kamen sie sich vor wie in einer Höhle. Und in einer solchen endete dann auch der geheime Schmugglerweg aus Hallgard heraus. Ein schmaler Ausstieg führte sie schließlich in eine Art Höhlenkammer, an deren anderen Ende Tageslicht durch eine Öffnung hereindrang. Der Impresario hatte einige Schwierigkeiten sich durch das Loch zu pressen, und mit einigem Schrecken erinnerte er sich daran, was sich zugetragen hatte, als ihm das letzte Mal so ein Missgeschick passiert war. Endlich waren sie dann alle draußen, der Ausgang war so mit Gesträuch verdeckt, dass man ihn unmöglich würde von außen entdecken können. Die letzten Strahlen der Sonne erhitzten die Felsöffnung, aus der sie soeben gekrochen waren. Kammergarn und der Sergeant kamen sich vor wie frisch geschlüpfte Eidechsen, die sich endlich in der Sonne wärmen konnten.
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