Es war so ruhig, dass er das Gefühl hatte, den Schnee fallen zu hören. Ein leises Knistern zog an seinem Ohr vorbei. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, dabei ließ die geschlossene Schneedecke alles, selbst in dieser, durch dicke Wolken hervorgerufenen, trüben Nacht, heller erscheinen. Der Schneefall war eher spärlich, als ob die hohen Minustemperaturen dafür verantwortlich waren, dass die Luftfeuchtigkeit zu Eis gefror. Es waren nicht die sonst üblichen dicken weißen Flocken, an denen man mit bloßem Auge Eiskristalle erkennen konnte. Dafür wäre es ohnehin viel zu dunkel gewesen.
Langsam bahnte er sich einen Weg durch den tiefen Schnee. Mit jedem seiner Schritte versank er einige Zentimeter und das Gehen fiel ihm schwer. Tief atmete er ein und aus und sein Atem produzierte riesige weiße Wolken. Er zog seinen Schal enger um den Hals und die Mütze tiefer ins Gesicht. Mühsam trug er die prall gefüllte Tasche geschultert.
In wenigen Schritten würde er die Kapelle und damit sein Ziel erreicht haben und doch fing er jetzt bereits an zu schwitzen. Um sich zu beruhigen, blieb er stehen. Sein Herz klopfte schnell, was nicht nur an der Anstrengung, durch den Schnee zu kommen, lag. Obwohl er genau wusste, was ihn erwarten würde, kroch immer mehr Spannung in ihm hoch.
Es war noch nicht lange her, da hatte er genau denselben Auftrag ausführen sollen und fühlte sich verantwortlich für dessen Scheitern.
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Wie lange er in der Kapelle gesessen hatte, konnte Tomasio nicht sagen. Er wusste, dass es draußen dunkel sein musste, kein Licht drang durch die Fenster und nichts erhellte das Innere. An die Dunkelheit hatte er sich schon lange gewöhnt. Mittlerweile fing er an zu frieren, seine Kleidung war vom Schweiß der Anstrengung, aus der Höhle zu kommen, feucht geworden. Wie lange er durch endlose Gänge unterwegs gewesen war, hätte er ebenfalls nicht sagen können. Er besaß keine Uhr und wusste nicht, was es damit überhaupt auf sich hatte. Um Zeit musste sich niemand kümmern. Doch diese wurde langsam knapp. Etwas, womit er nie gerechnet hatte.
Seine Muskeln schmerzten, denn obwohl sein Körper gut trainiert war, spürte er die Anstrengung des Aufstiegs aus der Höhle. Dass es so lange dauern würde, auch damit hatte er nicht gerechnet, denn er war noch nie an der Oberfläche gewesen. So wie alle anderen Bewohner auch.
„Wie werde ich hinaus finden?“, hatte er gefragt, als er bereit war, sich seiner Pflicht zu stellen.
„Du wirst es wissen, wenn du den Weg beschreitest.“
Verunsichert hatte er den Rat angesehen.
„Dein Instinkt wird dich führen“, hatte man ihm gesagt.
„Soll das heißen, ihr wisst es auch nicht?“
„Nein, wir wissen es nicht. Keiner von uns war je an der Oberfläche. Wir können dir nur das sagen, was überliefert wurde. Weiter als bis zum Versorgungsgang ist niemand gekommen.“
Tomasio hatte damit gerechnet, dass man ihn auswählte, um die Pleberesso zu retten, die seit Generationen in Frieden unter der Erde lebte. Aber er war sich nicht sicher, ob er seiner Aufgabe und der damit verbunden Pflicht tatsächlich gewachsen war.
Einige Stunden waren bereits vergangen und er wartete noch immer in der kalten Kapelle. Was es mit der Kälte auf sich hatte, mussten alle Pleberosso lernen. Er erinnerte sich an seine Kindheit, die absolut unbeschwert gewesen war, bis es von Jahr zu Jahr immer dunkler und vor allem kälter wurde. Er wusste, dass er etwas Besonderes war und was das zu bedeuten hatte. Ihm war ein anderes Leben vorbestimmt. Während alle seine Freunde sich einem Leben voller Freude hingeben konnten, nichts weiter zu tun, als glücklich zu sein und eine Familie zu gründen, so war es seine Aufgabe, die anderen zu beschützen.
Obwohl er als Kind keine Ahnung hatte, was das bedeutete. Seit Generationen lebten sie friedlich miteinander, ohne Kämpfe, ohne Gewalt, ohne Krankheiten. Letzteres trat jedoch mit der Kälte und der Dunkelheit auf und je älter Tomasio wurde, desto mehr wurde ihm seine Aufgabe bewusst.
Dass dies zur Folge hatte, dass er seine gewohnte Umgebung verlassen und an die Oberfläche gehen musste, hatte ihm niemand gesagt und ihn daher auch nicht darauf vorbereitet. Das Gefühl von Angst kannte er nicht, hätte auch nicht gewusst, was das Wort überhaupt bedeuten soll. Jetzt, da er in der dunklen Kapelle saß, furchtbar fror wie noch nie zuvor in seinem Leben, kroch etwas in ihm hoch, das ihn zittern ließ.
Auf dem Weg an die Oberfläche hatte ihn dieses seltsame Gefühl bereits überfallen. Aber je weiter er sich vom Zentrum der Höhle entfernte und je sicherer er dem Weg folgte, den er zuvor noch nie gegangen war, desto mehr schwand dieses eigenartige Gefühl in seinem Inneren. Er fühlte sich unerschütterlich und wusste, dass alles gut ausgehen werde würde.
Nun aber saß er zusammengekauert in einer Ecke und zitterte. Er war dreiunddreißig Jahre alt und noch nie zuvor in seinem Leben konnte er seinen Körper nicht beherrschen. Anfänglich nahm er an, es könne an der Kälte liegen, dann aber wusste er, dass es tief aus seinem Herzen kam. Er fühlte sich unwohl. Wäre es nicht vollkommen undenkbar gewesen, seiner Aufgabe nicht nachzukommen, er wäre den beschwerlichen Weg zurück in die Höhle gegangen.
Was sollte er nur tun? Die Ratlosigkeit, die sich einstellte, war ebenso ein Gefühl, das er nicht kannte. Er dachte an seinen Bruder Lorenzo, den alle nur Enzo nannten, außer natürlich der Rat der Farletti, die ältesten weiblichen Auserwählten, die darauf bedacht waren, dass alles seine Ordnung hatte. Obwohl sie selbst noch nie die sichere Umgebung der Höhle verlassen hatten, gaben sie ihm strikte Anweisungen, an die er sich halten sollte, damit alles ein gutes Ende nehme. Obwohl er davon überzeugt gewesen war, in seinem Alter ein erfahrener Mann zu sein, den nichts würde erschüttern können, stellte er fest, dass, je mehr sie ihm sagten, er sich fühlte wie ein kleines Kind.
Es verunsicherte ihn, dass er anfing an ihnen zu zweifeln. Immerhin hatten sie sich in Enzo vollkommen getäuscht. Er hätte es ihnen sagen können, dass Enzo nicht der gute Mensch war, den alle in ihm vermuteten. Aber man hätte ihm nicht geglaubt. Warum auch? Er selbst war überfordert mit der dunklen Seite seines Bruders. Als er das erste Mal mit angesehen hatte, wie Enzo nur zum Spaß ein Tier erst quälte, um es dann zu töten, war Tomasio entsetzt. Er wollte sofort zum Rat laufen, um zu sagen, was er gesehen hatte. Aber wie sollte er es ihm beschreiben? Er kannte nicht die Worte für böse Taten. In ihrem Leben war nichts dergleichen vorgesehen und alles andere war verboten. Nur das Gute im Menschen wurde akzeptiert.
Und nun saß er in einer dunklen eiskalten Kapelle und wartete darauf, abgeholt zu werden, damit er sich in den nächsten Tagen auf die Suche nach seinem Bruder und dem Kind machen konnte.
Das Kind, so hatte man ihm eindringlich gesagt, sei wichtiger als alles andere. Es sei anzunehmen, dass Enzo das Kind bei sich habe. Wenn man also das Kind fand, würde man auch Enzo dingfest machen können. Tomasio sollte das Kind in Sicherheit bringen und Enzo, wenn es sein musste, zurücklassen. Am besten wäre es, wenn er keinen weiteren Schaden anrichten konnte.
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„Ich soll ihn töten?“, fragte Tomasio ungläubig.
„Wenn du es so auffassen willst?“, sagte eine der Farletti des Rates und sah zu Boden, während die anderen vier bereits in ihre gefalteten Hände starrten.
Obwohl es in der Höhle etwas wärmer geworden war, seitdem der Rat die Steine im See zum Leuchten gebracht hatte, ließ ihn die Vorstellung, seinen Bruder töten zu müssen, erschauern.
„Wenn er keinen Schaden anrichten soll, gibt es ja wohl nur diesen einen Weg“, sagte Tomasio.
„Wir werden dich nicht verurteilen, wenn du tust, was getan werden muss.“
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