„Es wird Zeit.“
Die fünf Gestalten standen eng beieinander. Nicht nur, das niemand hören sollte, worüber sie sprachen, es wärmte sie, denn ihre Gewänder waren dazu kaum in der Lage. Lang hingen diese an ihnen herunter, sodass man ihre Füße nicht sehen konnte. Der Stoff war reich mit Perlen bestickt, die bunt im spärlichen Licht des Sees funkelten, aber dennoch so dünn, dass er die Körper nicht zu wärmen vermochte.
Lange Haare bedeckten die Häupter, deren Weiß sich kaum vom Teint der Haut unterschied. Die Gesichter waren alt. Falten zeugten von einem langen Leben. In den Gesichtszügen war Güte zu erkennen, die nun aber durch Angst ums nackte Überleben geprägt wurde.
„Die uns schon lange davon zu laufen scheint.“
„Ich werde krank und bin mir sicher, dass ich es nicht mehr lange durchhalten werde.“
„Aber was bleibt uns? Was können wir tun?“
„Wir müssen erneut handeln.“
„Aber das hatten wir bereits versucht und sind offensichtlich gescheitert.“
„Wie lange wird uns noch bleiben, wenn einer nach dem anderen von uns sterben wird?“
„Und was soll aus den Menschen werden? Sie verlassen sich auf uns.“
„Dann müssen wir aufgeben und die Letzten an die Oberfläche schicken.“
„Das werden sie nie überleben. Dafür fehlt ihnen die Kraft.“
„Wir haben jedoch noch eine Chance.“
Die Köpfe steckten eng zusammen, sodass niemand, nicht einmal von Nahem, hätte erkennen können, wer gerade sprach.
„Du willst ihn auch gehen lassen?“
Diese Stimme klang aufgebrachter, als die der anderen und eine Spur lauter als zuvor.
„Was haben wir denn für eine andere Wahl? Uns wird nichts übrig bleiben, als auch ihn auf die Suche zu schicken.“
„Aber dann sind wir ungeschützt. Er ist der Letzte, der Kraft genug hat, um uns vor der Außenwelt zu bewahren.“
„Er wird erfolgreich sein. Ganz sicher. Das muss er.“
„Und wenn er ebenso wenig zurückkehrt wie sein Bruder?“
„Nein, das wird er nicht. Er ist rein.“
„Das hatten wir von Lorenzo auch angenommen und ihr seht ja, was dabei herausgekommen ist.“
„Wie konnte es überhaupt erst soweit kommen? Warum hat niemand von uns bemerkt, was tatsächlich in ihm steckt und das er von Grund auf böse ist?“
„Wir wurden nicht dazu ausgebildet, zu erkennen, was schlecht ist.“
„Und das wird unser Ende bedeuten. Wir haben versagt.“
Auf der obersten Stufe einer endlos langen Treppe, die zur Decke der Höhle führte, tauchte ein Mann auf. Er wirkte klein und verloren, so viele Stufen waren zu überbrücken. Die fünf Gestalten sahen zu ihm auf. Einer von ihnen nickte mit dem Kopf und er machte sich auf den Weg hinab zum See.
Seine langen Beine steckten in weißen Hosen, dessen Stoff fließend seine Bewegung zeichnete. Je dichter er kam, desto deutlicher erkannte man, dass er keinesfalls klein war. Ganz im Gegenteil, zudem war er stark gebaut. Breite Schultern unterstrichen seine Erscheinung.
Obwohl er schnellen Schrittes die Treppe herunter kam, würde es noch einige Minuten dauern, bis er die Gruppe erreicht hatte.
„Also, was werden wir nun tun?“
„Er wird gehen und Lorenzo und das Kind suchen.“
„Glaubst du, dass Lorenzo es bereits gefunden hat?“
„Ich hoffe nicht, das wäre fatal und würde uns mehr in Schwierigkeiten bringen, als wir uns überhaupt vorstellen können.“
„Soll Tomasio denn erst nach dem Kind suchen?“
„Besser er findet es, bevor es zu spät ist.“
Es war früh am Morgen. Erst in ein paar Stunden würde die Sonne aufgehen. Marisa hasste die Dunkelheit. Ihr war kalt und selbst der heiße Kaffee, den sie duftend in ihren Händen hielt, konnte nicht verhindern, dass sie fröstelte. Gern wäre sie im Bett geblieben, so wie jeden Morgen. Das frühzeitige Aufstehen war etwas, was ihr in keiner Weise lag. Und sie gewöhnte sich einfach nicht daran, obwohl sie es nun schon einige Jahre tun musste.
Ein letztes Mal kontrollierte sie ihr Aussehen und schaute in den Spiegel. Eine Strähne ihrer schwarzen Locken hatte sich aus der streng gebundenen Frisur gelöst. Vorwitzig hing sie ihr ins Gesicht.
„Komm mir nicht so“, sagte sie laut zu sich selbst und steckte sie schnell wieder zurück.
Mit den Händen strich sie erneut über ihre Haare, um zu kontrollieren, dass alles perfekt saß. Eine weitere Unbändigkeit wollte sie nicht durchgehen lassen. Ihr spärliches Makeup sah gut aus. Sie machte grundsätzlich nicht viel Aufhebens darum, fand aber dennoch, dass es nötig war und ungeschminkt hätte sie niemals das Haus verlassen.
Es passte einfach zu ihrer gesamten Erscheinung. Meist trug sie schlichte Kostüme in gedeckten Farben. Einzig ein buntes Halstuch ließ sie als Akzentuierung zu. Aber meistens blieb sie eher grau. Es war in ihrer Position einfach besser, unauffällig zu bleiben. Außerdem entsprach die Farblosigkeit absolut ihrem Naturell. Stets achtete sie auf die Qualität ihrer Kleidung und dass diese in einem einwandfreie Zustand war. Es wäre unmöglich gewesen, wenn jemand Anstoß an ihrem Äußeren genommen hätte. In den Kreisen, in denen sie sich aufhalten musste, war ein gewisses Maß an Stil erforderlich. Daher genoss sie es, in ihrer Freizeit eher sportlicher gekleidet zu sein, wenn auch nicht weniger grau.
Sie schaute auf ihre Armbanduhr und wurde leicht hektisch. Schnell griff sie nach ihrem Mantel, zog ihn im Gehen an, hatte den Kaffeebecher dabei auf die Kommode im Flur gestellt, und verließ das Haus.
Eisiger Wind fegte ihr ins Gesicht. Die Dunkelheit war schwer genug zu ertragen. Was sie jedoch am meisten am Winter hasste, war die lausige Kälte, die durch den ewigen Wind noch verstärkt wurde. Ihren Schal hatte sie sich lediglich um den Hals gelegt. Es würde sich nicht lohnen, ihn enger zu ziehen oder gar den Mantel zu schließen, denn im Auto war es warm. Als sie den Wagen vorfahren sah, zog sie ihn sogar aus, denn die Fahrt würde eine knappe Stunde in Anspruch nehmen. Während sie darauf wartete, dass der Wagen vor ihr anhielt, hatte sie den Mantel über den Arm gehängt. In der anderen Hand trug sie einen kleinen Aktenkoffer.
Jetzt war ihr richtig kalt. Sie war sich sicher, dass, würde sie nicht umgehend ins Warme kommen, sie sich erkälten würde. Ihre Füße wurden bereits eiskalt und ihre Zehen fühlten sich taub an. Der Boden war gefroren. Erst vor ein paar Stunden war der Schnee vor ihrer Tür geräumt worden. Ihre Schuhe waren keinesfalls den Witterungsverhältnissen angepasst. Sie trug das ganze Jahr über Pumps, deren Absätze jedoch nie eine Höhe von neun Zentimetern überschritten, da sie sonst knapp einen Meter achtzig gewesen wäre und das war eindeutig zu groß und hätte ihre schlanke Figur zu sehr betont. Sie war darum bemüht, quasi unsichtbar zu sein. Auf gar keinen Fall wollte sie Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
An diesem Morgen schien es ihr kälter, als an all den anderen Tagen dieses lausigen Winters und die Zeit, bis der Wagen endlich bei ihr war, endlos zu sein. Ebenso wie dieser Winter, der nun bereits seit November anhielt. Inzwischen war es Ende Januar geworden und die Kälte wollte noch immer nicht von Norddeutschland lassen.
Mühsam quälte sich das Auto durch den Schnee, denn auf der Auffahrt war nicht geräumt worden. Gerade, als es wieder anfing zu schneien, konnte sie endlich ins warme Innere steigen. Sie legte den Mantel und den Aktenkoffer zur Seite und rieb sich mit den Händen ihre Oberarme.
„Guten Morgen, mein Schatz“, sagte der Fahrer, ohne sich zu ihr umzudrehen, „warum wartest du nicht im Haus, bis ich vor der Tür stehe. Es ist doch viel zu kalt da draußen, du holst dir noch den Tod.“
„Papa, warum fährst du schon wieder? Du sollst das doch nicht mehr.“
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