Becker betrat den Raum. Er hielt etwas in seiner behandschuhten Hand. »Verzeihung, Sir...« unterbrach er taktlos das sensible Verhör und reichte Hubert das Objekt; ein Smartphone, ähnlich dem, das er selbst benutze. »Wir haben Mister Moores Handy gefunden.«
Macintosh sah Becker fragend an. »Und?« Er wusste nicht so genau, was ihn jetzt erwarten würde. Moore hatte sicher keinen Abschiedsbrief auf diesem kleinen Gerät hinterlassen, wo man ihn nur durch Zufall finden würde.
»Da drin sind seine letzten Termine verzeichnet.«
Hubert nahm das Gerät, drückte einen Knopf und der Bildschirm erhellte sich. Er las die tabellarischen Eintragungen: Bis Anfang März hatte Moore täglich mehrere Meetings, Telefonkonferenzen und sonstige Geschäftstermine vermerkt, die als erledigt gekennzeichnet waren. Macintosh bedauerte den Mann um seine offensichtlich spärliche Freizeit und fragte sich unwillkürlich, ob dies nicht schon alleine ein Grund sein konnte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Er scrollte weiter. Erst Anfang April setzten die Eintragungen, jedoch wesentlich weniger umfangreich, wieder ein. Dann stieß Hubert auf den jüngsten Termin. Er stammte vom vergangenen Sonntag.
»Wer ist Jack Calhey?« fragte er Mrs Keller.
Sonntag, 04. April
17.22 Uhr
Nach zwei recht unbeständigen Apriltagen mit viel Regen hatte sich das Wetter vorübergehend zum Positiven gewandelt. Jack Calhey heizte in seinem alten Mustang mit offenem Verdeck über die nur mäßig befahrene Landstraße. Der Wind wehte ihm immer wieder eine seiner Haarsträhnen, von denen seine Freundin immer behauptete, sie gehörten auf den Boden eines Friseursalons, vor die Augen. Er genoss diesen Augenblick der Freiheit, der sich in ihm regte. Es hatte etwas nahezu rebellisches. Im Radio lief ›Hot Stuff‹ von den Stones, Jacks Lieblingsband. Es passte alles einfach zusammen und ein zufriedenes Grinsen huschte über sein Gesicht.
Alles in allem hatte er es wirklich gut. Er besaß einen angenehmen, abwechslungsreichen und vor allem nicht allzu stressigen Job als Journalist und Redakteur bei einem kleinen Tageblatt, eine attraktive und kluge Freundin, die obendrein noch von Haus aus wohlhabend war und – seinen weißen Mustang.
Jack drehte die Lautstärke noch etwas auf, wodurch die Bässe ihr Äußerstes gaben und dieses besondere Gefühl in ihm seinen Höhepunkt erreichte. Ja, es ging ihm wirklich gut. Hier und jetzt, in diesem Augenblick spürte er es und dieses positivste aller Gefühle konnte durch nichts getrübt werden. Er dachte mit Vorfreude an den Besuch, den er gleich seinem besten Freund abstatten würde und den er so lange nicht gesehen hatte.
Nachdem er die Ortschaft Sawbridgeworth passiert und die letzte der wenigen Kurven auf der Straße genommen hatten, kam das Ziel seiner Fahrt in Sicht: Das großzügige Anwesen von Byron Moore mit dem Herrenhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert. Als er sich dem reichlich verzierten, massiven Eisentor näherte, öffnete sich dieses wie von Geisterhand. Jack ließ es sich nicht nehmen, nochmals zu beschleunigen und den Motor laut aufheulen zu lassen.
Mehr als sieben Monate war es nun her, seit er das letzte Mal diesen Weg gefahren war, um Byron zu besuchen. Sieben Monate waren zwar nichts im Vergleich zu manch anderen langen Jahren oder Jahrzehnten, die gute Freunde durch Wiegungen des Schicksals getrennt waren, aber für Jack war es lange genug. Die Chemie zwischen ihnen stimmte einfach und mit kaum einem anderen Menschen konnte er sich stundenlang so angeregt unterhalten, wie mit Byron. Was ihn an dieser Freundschaft immer wieder faszinierte, war die Tatsache, dass sie trotz der so unterschiedlichen Lebenswege, die sie nach der gemeinsamen Schulzeit gegangen waren, und den daraus resultierenden gegensätzlichen gesellschaftlichen Stellungen, glänzend funktionierte. Er, Jack, war ein mittelmäßiger Journalist bei einer mittelmäßigen Zeitung mit einem mittelmäßigen Gehalt, der als Quereinsteiger ohne richtige Ausbildung einfach Glück gehabt hatte. Byron hingegen hatte nach der Schule studiert, hart geschuftet und war ins Big Business eingestiegen. Jack wusste gar nicht mal genau, in wie vielen Geschäftszweigen er überall seine Finger im Spiel hatte. Man konnte Byron Moore durchaus als Workaholic bezeichnen. Dass er trotz dieser fast 24-Stunden-Arbeitstage und unzähligen Geschäftsreisen pro Jahr ab und zu Zeit fand, sich mit seinem alten Freund zu treffen, war für Jack ein großes Lob. Immerhin hätte er sich genauso gut für eine Familie oder kostspielige Freundinnen Zeit nehmen können.
Familie. Etwas, das für Byron, trotz seiner Genialität und seiner Bildung ein Buch mit sieben Siegeln war, wie er selbst zugegeben hatte; ein Thema, zu dem er nichts Geistreiches sagen konnte, da es ihm an Erfahrung mangelte. Seine Mutter war früh gestorben. Krebs. Und sein Vater, die Leitfigur in seinem Leben, war ihr einige Jahre später gefolgt. Danach hatte sich Byron nur noch in die Arbeit gestürzt. Sich hier und da mal sexuelle Eskapaden geleistet. Mehr aber nicht. Jack hatte oft das Gefühl gehabt, dass die Einsamkeit Byrons einziger, ständiger Begleiter war. Vielleicht war aber auch einfach nur die Lebensweise, für die er sich entschieden hatte, Jack so fremd und nicht nachvollziehbar, war er doch selbst in einer Familie mit drei Brüdern und zwei Schwestern groß geworden und hatte er nun seit mehr als zwei Jahren, nach einer gescheiterten Ehe und einigen, mehr oder weniger amüsanten Affären, seine Grace. Er war niemals einsam. Und er war auch nicht traurig darüber.
Byrons Anwesen bot wie immer ein recht üppiges Bild, was von den idealen Wetterverhältnissen und einem geradezu perfekten Sonnenstand noch unterstrichen wurde. Moores historisches Herrenhaus, das er nach dem Tod seines Vaters von seinem selbst verdienten Geld einem verarmten Lord abgekauft hatte, war wirklich eine Augenweide. Es wirkte als Behausung für einen einzelnen Mann vielleicht etwas protzig mit den Steinsäulen vor dem Treppenaufgang, den mit schwerem Efeu bewachsenen, bräunlich-grau schimmernden Wänden und den Bogenfenstern in den kleinen Seitenflügeln links und rechts. Aber wenn man es sich leisten konnte, warum nicht? Jack hätte sich auch nicht zweimal bitten lassen.
Auf der obersten Stufe der breiten Treppe sah er aus der Ferne eine Person stehen, die ihm zuwinkte. Es war Byron. Direkt unterhalb des Aufgangs brachte Jack seinen Wagen zum Stehen und stieg aus. Sein Freund nahm flink die letzten Stufen und kam direkt auf ihn zu.
»Was ist denn das?« fragte er amüsiert und nickte in Richtung des Mustangs. Die Hände hatte er in den Hosentaschen vergraben. »Das letzte Mal hattest du doch noch diesen Geländewagen.«
Jack verzichtete ebenfalls drauf, zunächst »Hallo« zu sagen und antwortete stattdessen: »Mit der Karre hab’ ich doch immer nur Probleme gehabt. Und dann tauchte plötzlich dieses Schmuckstück im Netz auf. War ein Wink des Schicksals. Ist zwar ein Linkslenker, aber man gewöhnt sich an alles.«
Byron nickte anerkennend und schritt begutachtend um den Wagen herum. »Baujahr fünfundsechzig, oder?«
»Vierundsechzig.«
»Kompliment, du hast einen guten Geschmack. Wenigstens, wenn es um Autos geht.«
Jack ignorierte diese kleine Spitze, denn er wusste genau, dass Byron auf seinen eher schlampigen Look anspielte. Aber warum sollte er sich, wie sein Freund, immer in einen unbequemen Anzug zwängen? In seinem Job benötigte er äußerst selten einen und das war ihm auch sehr recht.
»Hallo, alter Junge«, sagte Byron nun freudig und eine feste, maskuline Umarmung folgte. Dann packte er seinen Gast am Arm und schob ihn sanft die Treppe hinauf ins Haus. »Jetzt trinken wir aber erst mal einen, was?«
Jack nickte. »Hätte ich nichts dagegen. Ist ja auch immer eine elende Fahrerei, bis man bei dir ist.«
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