»Guten Morgen, Sir«, begrüßte er seinen Vorgesetzen mit einer knappen Handbewegung. Hubert grüßte zurück und trat um den Schreibtisch herum. Er sah zu Boden und dort den leblosen Körper eines Mannes um die vierzig Jahre liegen. Byron Moore. Er lag auf dem Rücken, sein leichenblasses Gesicht zur Decke gerichtet. Er wirkte mit seinem weichen, aber sehr männlichen Profil und seinem vollen schwarzen Haar recht attraktiv, soweit Hubert das beurteilen konnte.
»Selbst jetzt noch.«
Der Tote trug glänzende schwarze Maßschuhe, eine Nadelstreifenhose und ein feines Seidenhemd. Aus seiner linken Brust, etwas unterhalb des Herzens, ragte der verschnörkelte Griff eines Brieföffners. Die obere Partie des Hemdes war völlig von getrocknetem Blut durchtränkt und auch der schwere Teppich, auf dem die Leiche lag, hatte dunkle Flecken.
»Nicht wirklich angenehm.« Obwohl ihm Anblicke dieser Art keineswegs fremd waren, schauderte Hubert innerlich. Eigentlich war er vor über zehn Jahren von Scotland Yard weggegangen, um nicht mehr solchen Bildern ausgesetzt zu sein.
Und um der Quengelei seiner Frau Patricia Rechnung zu tragen. Mit Verärgerung dachte er daran, dass er in einer Woche schon mit ihr in der Dominikanischen Republik sein würde. Sich den etwas zu rundlichen Bauch bräunen und Cocktails mit Zuckerrand am Glas trinken. Hätte Mister Moore nicht bis dahin mit seinem Abgang warten können, damit sich ein anderer mit dem Fall rumschlagen durfte?
Hubert konzentrierte sich wieder auf den Tatort und begutachtete das Stillleben eine Weile ohne Fragen zu stellen, um das aufzunehmen, in seinem Geist und auf elektronischem Weg im Smartphone speichernd, was der erste Blick ihm zeigte. Becker kannte diese Methode des Inspektors und sagte nichts, während er sich die Handschuhe abstreifte und langsam Richtung des Salons ging.
Die Augen des Toten waren geschlossen oder von einem der Anwesenden geschlossen worden. Wie Rainard gesagt hatte, lag der Körper in einer Position, in die man geraten konnte, wenn man sich selbst auf diese Weise das Leben nahm. Er musste zusammengesackt und dann auf den Rücken gekippt sein. Der linke Arm Moors ruhte auf dem Drehkreuz seines Schreibtischsessels und der hochgerutschte Hemdsärmel legte den Blick auf eine goldene Rolex frei. Das linke Bein war leicht verdreht und angewinkelt. Über der Rückenlehne des Sessels hing Moores Jackett.
Der Schreibtisch, den er als nächstes in Augenschein nahm, bot ein normales und geordnetes Bild: Eine lederne Schreibunterlage, ein Telefon, ein aufgeklapptes Notebook, aber keinerlei Papiere, die offen herum lagen.
Hubert mutmaßte, dass Byron Moore auch auf seinem Computer keinen Abschiedsbrief hinterlassen hatte. Sein Bauch sagte ihm, dass die Entscheidung des Mannes, sich selbst ins Jenseits zu befördern, ein Kurzentschluss gewesen sein musste. Vielleicht hatte er kurz zuvor eine schlimme Nachricht erhalten?
»Die Fotos will ich spätestens um Eins haben«, sagte der Inspektor, ohne von der Leiche aufzusehen.
»Na klar,«, bestätigte Becker und verließ den Raum.
Nun war Hubert alleine. Er trat etwas zurück, hinter den Toten und ließ nochmals seinen Blick aus dieser anderen Perspektive schweifen. Sein Smartphone hielt er weiterhin fest umklammert. Er würde es bald brauchen, denn er musste sich über die Person Byron Moore näher informieren; insbesondere über sein Verhalten am Abend vor seinem Tod. Gestern. Mit Unbehagen dachte Hubert an das bevorstehende Gespräch mit der Haushälterin. Er hätte ihr eine sofortige Befragung gerne erspart, aber es war wichtig, sie zu vernehmen, solange ihre Erinnerungen noch frisch waren. Langsam umrundete er den Arbeitsplatz; weitere Auffälligkeiten konnte er jedoch zunächst nicht finden. Vielleicht würden die Ergebnisse der Spurensicherung ja noch etwas aufzeigen. Er machte noch ein paar Schnappschüsse mit dem Handy.
Als er wieder in den Salon kam, war die Haushälterin verschwunden, das Sofa leer. Grummelnd stieg er aus dem Schutzanzug und warf ihn samt der Plastikhandschuhe auf einen Ohrensessel in der Ecke. Der Mann, den die Polizisten als Doktor Drake identifiziert hatten, kam auf Hubert zu und lächelte zaghaft.
»Sie sind Inspektor Macintosh, richtig? Doktor Timothy Drake.« Sie gaben sich die Hand.
»Es ist einfach schrecklich«, kommentierte der Arzt mit dem vertrockneten Gesicht, den tief hängenden Tränensäcken und buschigen Augenbrauen unvermittelt und schüttelte schockiert den Kopf. »Ich kann mir überhaupt nicht erklären, was Mister Moore nur dazu gebracht hat. Es ist einfach unfassbar.«
»Suizid ist oftmals ein großer Schock für die Hinterbliebenen.« Er machte eine kurze Pause und sah dann Doktor Drake direkt in die Augen. »Die Haushälterin hat zuerst Sie verständigt, nicht wahr?« fragte er und öffnete die Organizer-App seines Smartphones.
»Ja, das stimmt. Sie war völlig aufgelöst, ja fast hysterisch. Ich habe sie am Telefon erst gar nicht richtig verstanden. Natürlich bin ich sofort rübergefahren und als ich Mister Moore dann in seinem Arbeitszimmer liegen sah...« Er machte eine kurze Pause und starrte mit leeren Augen in Richtung des Fundorts. »Da vermutete ich gleich, dass jede Hilfe zu spät kam. Ich habe dann die Polizei in Sawbridgeworth verständigt.«
Hubert formte in seinem Kopf eine geographische Karte. Sawbridgeworth war der Ort, der dem Anwesen Moores am nächsten lag. Mit flinken Bewegungen tippte er einige Stichworte zu Drakes Aussage in sein Smartphone. Er mochte dieses kleine Ding, aber dem war nicht immer so. Als es ihm seine Frau im letzten Jahr zu seinem achtundfünfzigsten Geburtstag geschenkt hatte, war er noch ein absoluter Verfechter von Block und Bleistift gewesen. Er hatte ihr auf seine charmante Art klar gemacht, dass er das Ding nicht wollte und ihr vorgehalten, dass sie damit nur auf sein fortgeschrittenes Alter und die damit einhergehende Vergesslichkeit anspielte. Außerdem war es winzig, brauchte Strom und konnte leicht kaputt gehen. Aber mit der Zeit und dank seines technisch versierten Assistenten hatte Hubert neben der Telefonfunktion seine weiteren Vorzüge kennengelernt und inzwischen hatte das Gerät einen festen Platz in seinem Arbeits- und Privatleben eingenommen.
»Wann haben Sie Mister Moore zum letzten Mal untersucht? Ich gehe davon aus, dass Sie sein Hausarzt waren?«
Drake nickte. »Das ist richtig. Ich kenne ihn schon seit seiner Kindheit. Sein Vater und ich waren recht gut befreundet. Aber der ist jetzt auch schon seit über fünfzehn Jahren unter der Erde. Zu Ihrer Frage: Ich mache bei ihm normalerweise einmal pro Jahr einen kompletten Checkup. Der letzte war kurz vor seinem Urlaub. Das war erst vor etwa eineinhalb Monaten. Bis auf leichte Stresserscheinungen war er topfit.«
Hubert brummte etwas Unverständliches und überlegte einen Moment. Dabei fuhr er sich mit Daumen und Zeigefinger über die Konturen seines Schnauzbarts. »Stresserscheinungen?« fragte er dann.
Doktor Drake suchte nach den richtigen Worten. »Nun ja. Er ist, pardon, er war ein erfolgreicher Geschäftsmann. Und ich habe ihn eigentlich immer als einen Workaholic eingeschätzt. Da stellt sich Stress natürlich automatisch ein, egal ob man seinen Job liebt oder nicht. Er liebte ihn.«
Macintosh nickte stumm und machte sich wieder ein paar Notizen. »In welcher Branche war er tätig?«
»Elektronik. Seine Firma stellt Bauteile für Computer her, glaube ich.«
Hubert sah sich nun in seiner Annahme bestätigt, dass der Tote der Gründer der Moore Enterprises, einem Konzern aus London, sein musste.
»Glauben Sie, dass er sich selbst getötet hat?«
Drakes Miene verfinsterte sich. »Ich hätte es, ehrlich gesagt, nicht für möglich gehalten. So wie ich ihn kannte, war er nicht der Typ Mensch, der sich in ein emotionales Loch stürzen würde.«
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