Dienstag, 06. April
9.03 Uhr
Als der unausgeschlafene Inspektor Hubert Macintosh den vom morgendlichen Sonnenlicht durchfluteten Salon des alten Herrenhauses betrat, glaubte er, die einsetzende Erleichterung der Anwesenden förmlich spüren zu können. Es war ein gutes Gefühl, wenn auch mit viel Verantwortung verbunden. Sobald er auftauchte, vertraute jeder darauf, dass er das Bindeglied zwischen Verbrechen und Verbrecher sein würde und bisher hatte er auch meistens diese Erwartungen erfüllen können. Heute begann eine neue Runde.
Bevor er zu den beiden Polizisten gehen würde, die bereits seit etwa einer halben Stunde die Stellung hielten und nun sehnsüchtig zu ihm herüberschauten, sah er sich erst einmal im Raum um.
Der Salon des großzügigen Anwesens machte einen gediegenen Eindruck und zeugte von edlem und vor allem teurem Geschmack. Es schien, als sei jedes einzelne Möbelstück und jedes noch so kleine Accessoire mit großem Bedacht ausgesucht worden, um eine perfekte Harmonie zu erzeugen. Die Einrichtung war modern, aber keineswegs kalt. Die Sonnenstrahlen, die durch die fast deckenhohen Fenster an der Längsseite des Raumes fielen, und in denen kleine Staubkörner tanzten, unterstrichen diesen Eindruck nochmals.
Es war eine trügerische Stimmung, wie Hubert bereits wusste.
Zu seiner Rechten befand sich, einen breiten, inaktiven Kamin aus schwarzem Marmor einrahmend, eine große Sitzgarnitur mit zwei cremefarbenen Ledersofas und einem Sessel. Auf dem der Fensterfront abgewandtem Sofa saß eine ältere Frau; sie war kreidebleich und stand offensichtlich unter Schock. Ihrer Kleidung nach zu urteilen musste sie die Haushälterin sein.
Dicht an sie gedrängt saß ein Mann um die siebzig in einem, selbst für Macintoshs Geschmack, altmodisch grob karierten Jackett, der die Frau sanft am Arm hielt und offenbar sowohl als seelische als auch physische Stütze fungierte. Vor ihm, auf dem ovalen Glastisch, stand eine geöffnete, abgewetzte bauchige Ledertasche. Der Mann war der Hausarzt, schlussfolgerte Hubert.
Die beiden jungen Beamten standen auf der anderen Seite des Raumes, an einem glänzenden schwarzen Konzertflügel und beobachteten die Szenerie schweigend und mit hinter dem Rücken verschränkten Armen. Als Hubert sich ihnen näherte, nahmen sie sofort eine steife Haltung an.
»So, Jungs. Macintosh, Hertfordshire Constabulary«, sagte er, ohne einen guten Morgen zu wünschen. Wenn er gerufen wurde, konnte es ohnehin kein guter Morgen sein. Er ließ die Männer einen kurzen Blick auf seinen Dienstausweis erhaschen.
»Klärt mich mal auf. Was ist hier los?«
Der linke der beiden Männer, ein hagerer Kerl mit kantigem Grübchenkinn, der Hubert fast um einen Kopf überragte, war augenscheinlich der etwas Ausgeschlafenere. Sofort begann er mit einer Erklärung.
»Mrs Keller ist die Haushälterin von Mister Moore. Sie hat ihn wohl heute Morgen gefunden.« Er nickte in Richtung der Frau auf dem Sofa.
»Hat sie die Polizei gerufen?«
»Nein, das war Dr. Drake, der Mann neben ihr. Sie hat zuerst ihn verständigt. Offenbar dachte sie, es wäre noch was zu retten.« Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass dem nicht so war.
Hubert beobachtete die Frau und den Arzt durch den Raum. Drake flüsterte Mrs Keller, so schien es, gerade aufmunternde Worte zu.
»Okay! Was muss ich noch wissen, bevor ich mir den Toten anschaue?«
Die beiden Polizisten wechselten einen stummen Blick, als würden sie ausknobeln, wer jetzt antworten sollte. Wieder war der linke Bursche schneller. Er warf einen kurzen, entschuldigenden Blick auf seinen Kollegen und räusperte sich.
»Doktor Rainard hat gesagt, dass alles auf Selbsttötung hindeutet.«
Auch wenn Hubert die ihm bekannten Wagen auf dem Hof bereits bemerkt hatte, entfuhr ihm ein innerlicher Fluch. Rainard, der Rechtsmediziner, war samt seinem Team vor ihm eingetroffen. Es schien, als seien an diesem Morgen alle schneller gewesen, als er selbst. Er überlegte kurz und sah die beiden Männer prüfend aus den Augenwinkeln an.
»Und was meint ihr?«
Jetzt würde sich zeigen, ob diese Staatsbediensteten tatsächlich etwas im Köpfchen hatten, oder doch eher, dem Klischee entsprechend, als Dorfpolizisten nur zur Verwarnung von Parksündern geeignet waren.
»Ja, also...«, begann jetzt der andere der beiden, ein Rotschopf mit käsiger Haut und vielen Sommersprossen, zu Macintoshs Verwunderung mit einem Erklärungsversuch. »Moore liegt hinter seinem Schreibtisch, mit einem Dolch in der Brust.« Seine Stimme klang nasal, als hätte er Schnupfen.
»Ein Brieföffner!« korrigierte ihn sein Kollege sogleich tadelnd.
Hubert empfand das kleine Duell zwischen den Beamten irgendwie drollig. Sicherlich bekamen die beiden nur selten etwas so spektakuläres wie einen Mord vorgesetzt und sie versuchten sich nun in einem Kompetenzkampf.
»Ja, ein Brieföffner. Die Spurensicherung ist da schon seit zwanzig Minuten am Werkeln. Bisher gibt es keine Anzeichen für einen Einbruch oder ähnliches.«
Hubert ging ein paar Schritte in die Richtung, in welche die beiden Polizisten mehrmals unbewusst geschielt hatten. Dort grenzte ein weiterer Raum an den großen Salon an. Das Arbeitszimmer des Hausherrn.
In diesem Moment betrat Doktor Rainard, aus eben diesem Zimmer, den Salon. Als er Macintosh sah, lächelte er freundlich und zog sich die Kapuze seines Papieranzugs vom Kopf.
»Ah, guten Morgen, Chef.«
Sie gaben sich die Hand. Rainard trug einen Plastikhandschuh. Hubert nickte und rang sich ebenfalls ein Lächeln ab. Der junge Arzt war zweifelsohne einer der fähigsten Männer auf seinem Gebiet, den er je kennengelernt hatte. Die seltenen Gelegenheiten, bei denen er mit ihm zusammen arbeitete, zeigten ihm allerdings, dass er sehr ehrgeizig war. Zu ehrgeizig, um sympathisch rüberzukommen.
»Morgen, Doktor. Was haben wir denn da drin?« fragte Hubert und ignorierte damit bewusst die bisherigen Informationen, die ihm die beiden Beamten gegeben hatten.
»Tja...« Rainard drehte sich nochmals nachdenklich um und befingerte den Mundschutz, der an seinem Hals hing. »Sieht mir ganz nach Suizid aus. Keine Kampfspuren, keine Fingerabdrücke und die Lage des Körpers ist so, als hätte er sich selbst gerichtet.«
»Mit einem Brieföffner«, ergänzte Macintosh.
Rainard nickte. »Sieht aus wie Elfenbein, jedenfalls ein ganz edles Ding. Naja, eigentlich so wie alles hier.« Er blickte durch den Raum.
»Ja, der Mann lebte wohl nicht schlecht«, stimmte Hubert gleichgültig zu und zog dabei sein Smartphone aus der Manteltasche. Sofort formierte sich in seinem Kopf die erste Frage: Wie viel Überwindung und seelische Zerrüttung musste ein Mensch aufbringen, sich selbst zu erdolchen? Es gab wahrhaftig einfachere und schmerzfreiere Methoden, sich das Leben zu nehmen.
»Naja. Es gibt auch Dummköpfe und Masochisten.« Hubert ließ sich ebenfalls einen Einweg-Schutzanzug geben und zog ihn über. Dann betrat den Ort des Geschehens.
Das Arbeitszimmer stellte stilistisch einen Gegensatz zum Salon dar, denn es war wesentlich altmodischer eingerichtet. Es passte mehr zu dem, was man erwartete, wenn man das Herrenhaus von außen sah. Schweres Holz, Messing und Goldbeschläge bestimmten das Bild. Und der Raum war deutlich kleiner als der Salon, aber immer noch sehr großzügig dimensioniert, wie Hubert neidvoll feststellte. Er hatte zwei hohe Fenster, aber aufgrund der Lage des Raums fiel zu dieser Tageszeit nur indirektes Licht hinein. Die Beleuchtung kam von der Decke und von drei Halogen-Stativlampen, die ihr Licht auf den Boden hinter dem ausladenden und reich verzierten Schreibtisch warfen, der bestimmt dreimal so groß war, wie der von Hubert. An den seitlich gegenüberliegenden Wänden standen hohe Regale, die von einem Ende des Zimmers zum anderen reichten und mit hunderten von Büchern vollgestopft waren. Sie wirkten, als würden sie den Raum erdrücken; zumindest empfand Hubert es so. Hinter dem Schreibtisch erhob sich gerade ein Mann, der wie er vollständig in einem weißen Papieranzug vermummt war. Hubert erkannte ihn an seinen zusammengewachsenen Augenbrauen als Becker, Rainards tüchtigen, wenn auch, für seine Arbeitsauffassung, etwas zu lässigen Assistenten. Er bemerkte Hubert sofort.
Читать дальше