Und natürlich auch auf den Besitzer. Alles passte zu Andreas. Man hätte sich auch ein anderes Erscheinungsbild bei ihm nicht vorstellen können. Andreas war ein Rebell. Er war schon immer ein Rebell gewesen. Er war einfach anders. Er erinnerte in vielen Dingen an die bekannten Aufmüpfigen der Geschichte, wie Spartacus, Andreas Hofer, Che Guevara, oder TankMan, der in China den Panzern der Militärmacht entgegentrat. Andreas ging es allerdings nicht nur um das Wohl einer unterdrückten Minderheit. Seine Triebfedern waren die tief in ihm verankerte Gekränktheit, nicht mehr der Champion vergangener Jahre zu sein, und das Bewusstsein, von allen verlassen und von den meisten beschissen worden zu sein. Andreas war vom erfolgsverwöhnten Star der Massen zu einem zurückgezogenen Eigenbrödler gezwungen worden. Die etablierte Bevölkerung wollte ihm keinen angemessenen Platz mehr bieten. Viele Menschen sind schematisierungsfähig. Andreas passte einfach nicht in irgendein Schema hinein. Er hatte sich einst vorgenommen, das Ziel, das er sich gesteckt hatte, zu erreichen. Mit allen Mitteln. Er hatte nicht merkt, wie ihn diese Versessenheit immer mehr ins Abseits geschoben hatte. Seiner Umwelt war schon längst klar geworden, dass er sein Ziel kaum erreichen könnte. Doch Andreas S. blieb stur und er blieb, was er war, ein Rebell. ‚Ich werde allen zeigen, was derer für Menschen sind‘, sagte er sich immer wieder als Durchhalteparole. ‚Wie geredd, so gebabbelt. Alla, mer fange an‘! Die Temperaturen, die der Fahrtwind seinem Körper entgegenhielt, erweckten bei Andreas den Eindruck, als wenn er die in diesen Jahren immer intensiver diskutierte drohende Erderwärmung schon jetzt deutlich spüren könnte. Ein wenig fühlte auch er sich mit verantwortlich an den Zukunftsszenarien, die immer und immer wieder in den unterschiedlichsten Medien beschworen wurden. Aber so ganz fühlte er sich wiederum auch nicht verantwortlich, denn er war ja nur ein kleines Rädchen im großen Getriebe der Klimawandlungsmaschinerie. Er war froh, dass ihm rechtzeitig eine Entschuldigung für seinen momentanen Beitrag zur Klimagestaltung eingefallen war. Eine vor ihm auftauchende S-Kurve zwang ihn, seine Aufmerksamkeit wieder ganz der Straße zu widmen. Konzentriert ging er die Kurve an. Erst rechts, dann gleich wieder links. Er war überrascht, wie butterweich sich die Harley Davidson XL 1200 Sport Custom in die Kurven schmiegte und wie selbstverständlich sie sich anschließend wieder aufstellte. Und der Silent-Block! Angenehme Motorvibrationen (
nice vibrations ), überzeugendes Drehmoment und ein perfektes Handling. Die empfohlene Reisegeschwindigkeit lag zwischen einhundertzwanzig und einhundertdreißig Kilometer in der Stunde. Einfach Fahrspaß pur. Der Anschaffungspreis war für eine Harley Davidson zwar günstig gewesen. Doch die laufenden Kosten lagen auf typischem Harley-Niveau. Solchen Problemen hatte Andreas allerdings vorgebeugt. Seine Freundin diente im gut florierenden Gewerbe. Er konnte sich nicht beklagen. Der Emanzipation der Frau stand er schon lange positiv gegenüber. „Du machst den Job und sorgst fürs Geld“, hatte er gesagt, „und ich passe uff“. Und so konnte er gemäß der Maxime der Hells Angels Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Respekt, Freiheit sorglos weiter in Richtung Zentrum seiner Heimatstadt fahren. Seine Heimatstadt, eine mittelgroße Industriestadt mit einem historischen Schloß als Avance an die Kultursuchenden, erweckte in Andreas nicht nur positive Erinnerungen. Früher war er der Held dieser Stadt, den die örtliche und überörtliche Presse immer wieder wegen seiner großen Leistungen, die er für die Stadt, das Land, die Republik erbracht hatte, gelobt und hofiert hatte. Man war ihm mit Respekt begegnet. Der Bürgermeister hatte ihn, Andreas S., aufgrund seiner hervorragenden Leistungen, bei jedem Neujahrsempfang der Stadt lobend und als positives Vorbild herausgestellt. Eigentlich waren alle stolz auf ihren Mitbürger Andres S., tauchte doch gleichsam mit der Berichterstattung über Andreas Leistungen in den verschiedenen Medien auch der Name der Heimatstadt mit auf. Keiner konnte leugnen, dass durch Andreas sportliche Erfolge, seine zahlreichen Titel als Deutscher Meister, seine Platzierungen in der Europa- und Weltelite, die Stadt immer bekannter wurde. Doch dies war nun Vergangenheit. Sein Name und seine damit im Zusammenhang stehenden Leistungen waren für viele schon vergessen. Unbewusst und auch teilweise gewollt. Von seinem Ruhm war nur noch ein kläglicher Rest geblieben. Und der jetzige Respekt, der ihm stellenweise entgegengebracht wurde, war nicht seinen Meriten zu verdanken, sondern mehr seiner Erscheinung. Einige kannten ihn nur als ‚der mit dem Zopf’. Andreas verlangsamte seine Fahrt, als er auf die mit Tischen und Stühlen zugestellte Freifläche vor der Eisdiele an einer Straßenecke zufuhr. Er hielt seine Harley so nah wie möglich an der äußeren Tischreihe an, stellte den Motor ab, schwang sich aus dem Sattel und bockte die Maschine auf. Mit dem Gewicht der Maschine hätten einige Schwierigkeiten bekommen. Für Andreas waren Gewichte kein Problem. Weder früher noch jetzt. Er nahm den L.A. Policehelm ab und hängte ihn an den Lenker. Seine Haare, die sich nun richtig ausbreiten konnten, fielen ihm bis über die Schulterblätter seiner breit ausladenden Schultern. Er nahm ein Gummiband aus der Hosentasche und band seinen Haarschopf zu einem Pferdeschwanz zusammen. Eine rein pragmatische Handlung. Hatten einige der Gäste bereits beim Ankommen der Harley mit ihrem unverwechselbaren Sound ihren Eisgenuss unterbrochen und verstohlen zu Andreas geschaut, so wurde die Zahl der Neugierigen durch jede weitere Aktion von ihm vergrößert. Und als er die wenigen Meter zu dem von ihm ausgewählten Platz gut gelaunt und voller Tatendrang mit den knallenden Absätzen seiner Fashion Westernstiefeletten zurücklegte, drehten sich einige fast provozierend zu ihm um. Die meisten allerdings, als sie den typischen Hells Angel sahen, drehten ebenso schnell ihren Kopf wieder zurück. Nur nicht auffallen. Zu viel Schlechtes hatten sie über diese Motorradgang gehört. Und man wusste, was alles passieren konnte. Andreas kannte diese Vorurteile einiger Mitmenschen, und er deutete das multikulturelle Sprachengewirr, das ihn umgab, das er aber nicht verstand, als Diskussion über eben dieses Thema. Alle Hells Angels waren kriminell, alle waren Bordellbesitzer und so weiter. ‚Spießer’, dachte er nur. Ihn störte die Meinung der anderen nicht. Er sagte sich immer: ‚Du bist du. Ändern kannst du es nicht und willst es auch nicht. Bleib einfach du!’ Und die, die ihn angafften, bestärkten ihn nur noch in diesem Ego. Er wählte einen Platz aus, von dem er sowohl seine Maschine als auch die unmittelbare Nachbarschaft beobachten konnte. Ihn interessierten die Leute schon. Niemand merkte, wie er sie unauffällig beobachtete. Andreas hatte die Gabe, Dinge sehr schnell zu erfassen, zu analysieren und sich dem entsprechend zu verhalten. Wenn auch manchmal, basierend auf einer zu übereifrig gestellten Analyse, sein Verhalten nicht immer richtig war. „Was darf ich Ihnen bringen?“ fragte die Bedienung höflich, nachdem sie sich zwischen den besetzten Stühlen zu ihm hindurch gezwängt hatte. „Ich hätte gern einen Latte Macchiato“, sagte er in einem angenehm zurückhaltenden Tonfall. „Gern“, kam die Bestätigung zurück. Andreas kramte seine Packung LUX-Zigaretten aus der Brusttasche, nahm eine Zigarette heraus und suchte vergeblich nach seinem Feuerzeug. Wollte er rauchen, musste er nun kommunikativ werden. Die meisten Gäste hatten ihn nach ihrer ersten Musterungswelle akzeptiert und widmeten sich wieder ihren Eisportionen und den Gesprächen unter sich. Jeder in seiner Landessprache. Direkt am Nebentisch von Andreas saß ein älterer Herr, der sich eine Tasse Kaffee bestellt hatte und diese, zwischendurch immer mal einen Zug aus einem Zigarillo nehmend, sichtlich genoss. Andreas schätzte ihn auf knapp sechzig Jahre. Vielleicht auch etwas älter. Es viel ihm schwer, das Alter des Gastes genau zu schätzen. Die Kleidung des Gastes war dezent sportlich, kein modischer Schnickschnack, der sein wahres Alter kaschieren sollte. Seine Haare waren spärlich und der mäßig wehende Wind trieb auch noch seinen Schabernack mit ihnen, in dem er sie mal nach rechts und mal nach links legte. Andreas schaute amüsiert zu dem Herrn hin. Nicht provozierend, nur interessiert. Gerade wollte er ihn ansprechen und um Feuer bitten, als die Bedienung mit der bestellten Latte Macchiato angewirbelt kam. Die Südländer wirbeln immer, wenn sie bedienen. Sie sind immer in geschäftiger Betriebsamkeit, auch wenn sie pausieren. Noch bevor Andreas sein Vorhaben, den Herrn am Nebentisch um Feuer zu bitten, fortsetzen konnte, blickte dieser leicht erstaunt in Andreas Richtung. Für Andreas eine Situation, die so vollkommen neu war. Jemand schaute ihn ganz offen an! Die Blicke begegneten sich. Und ohne irgendein Anzeichen von Unsicherheit begann der Gast mit Andreas ein Gespräch. Wie selbstverständlich. Andreas war heute zum ersten Mal sprachlos. Jede Reaktion hatte er von seinem Gegenüber erwartet. Vielleicht eine abfallende Bemerkung, die sich der Nachbar auf Grund seines Alters herausnehmen würde. Doch nichts von dem. Dieser schaute nur interessiert auf das Getränk, das vor Andreas stand und wollte ihn gerade ansprechen, als Andreas leicht verunsichert sagte: „Entschuldigen sie“, er sagte dies vorsichtshalber etwas lauter, „haben sie einmal Feuer für mich?“ „Ja, einen Augenblick“, sagte der Angesprochene und nahm das Feuerzeug, das neben seinem Aschenbecher lag. Er reichte es mit einem Lächeln seinem Nachbarn. Andreas zündete sich seine Zigarette an und als er das Feuerzeug zurückgeben wollte, bemerkte er die seitliche Werbeaufschrift ‚Vital durch Vitamin C’, darunter der Name einer Apotheke. ‚Wie der Papa’, dachte er, ‚immer noch das Letzte aus sich herausholen wollen’. „Darf ich Sie einmal fragen, “ unterbrach der Nachbar Andreas Gedankengang, „was Sie dort in Ihrem Glas haben? Habe ich noch nie gesehen. Ist das mit Alkohol?“ „Nein, ohne Alkohol. Ich trinke überhaupt keinen Alkohol. Dies ist ein Latte Macchiato. Die untere Schicht ist Milch, dann kommt eine Schicht Espresso und obendrauf ist aufgeschäumte Milch. Also von unten bis oben gesund“, lachte Andreas. Und er ergänzte: „Ich glaube, dass es ‚fleckige Milch’ bedeutet. Weiß aber nicht genau“. „Aha. Und kein Alkohol?“ so ganz wollte der ältere Herr es doch nicht glauben. ‚Wie der Papa’, dachte Andreas wieder. Nachdem der Herr von Andreas Bestätigungen überzeugt schien, wandten sich beide kurz ihrem jeweiligen Getränk zu, um dann gestärkt die begonnene Unterhaltung mit unverfänglichen Themen fortführen zu können. Denn keiner von ihnen wollte den Anderen in irgendeiner Weise brüskieren. Ein sich langsam der Straßenecke näherndes Polizeifahrzeug gab einigen Gästen des Eiskaffees neuen Gesprächsstoff. Die Spekulationen über mögliche bevorstehende interessante Handlungen nahmen sichtbar zu, als das Polizeifahrzeug rechts an den Straßenrand fuhr und ein Beamter ausstieg und zielstrebig in Andreas Richtung ging. Neugierig sahen einige wieder zum Hells Angel hinüber, sogar ein wenig feindseliger als vorher. Jetzt, wo man doch den Schutz der Polizei sah, konnte man es sich leisten. Doch zu ihrer großen Enttäuschung ging der Polizist geradlinig an Andreas vorbei auf die Eis Theke zu und holte für sich und seinen im Fahrzeug wartenden Kollegen je drei Kugeln Vanilleeis. Andreas hatte die Polizei überhaupt nicht bemerkt, und seinem Nachbarn war der Vorgang auch nicht bewusst geworden. Beide hatten sich in ein Gespräch vertieft, wie es wohl keiner von ihnen vorher für durchführbar gehalten hatte. ‚Wäre doch der Papa so gewesen’, dachte Andreas. Es war wohl eine knappe halbe Stunde vergangen, als Andreas aufstand und sich von seinem Gesprächspartner mit einem Kopfnicken und der Bemerkung: „Vielleicht trifft man sich einmal wieder“ verabschiedete. Er ging zur Theke, um zu bezahlen und sah, als er zu seiner Harley ging, wie einige Gäste ihn neugierig musterten. Nicht ihn selbst, sondern den älteren Herrn, mit dem sich Andreas gerade unterhalten hatte.
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