Und wenn gar erst der Primarius selbst die Visite vornimmt, der heute im Privatspital „Zum Göttlichen Erlöser“ schon einen halben Magen herausgeschnitten und sein Privathonorar für ein Jahr lang länger Privatkost eingestrichen hat, wenn also nun der Primararzt selbst zwei Stunden später als gewöhnlich durch die Zeitlosigkeit der Krankenzimmer schreitet, dann tritt tatsächlich Gott selbst ein, der schon existierte vor aller Krankenzimmerzeit.
Natürlich gab es die tägliche Visite auch in Kerserderserkerskis Abteilung. Kinderpatienten, kleine ausgemergelte Körper oder durch unübliche Medikamentengaben aufgedunsene Gesichter, die sich zur Stunde der Visite irgendwo anders als im Krankensaal I aufgehalten hätten, gab es natürlich auch in der „Kinderfachabteilung“ nicht. In Kerserderserkerskis Abteilung trieb man den Spitalsgedanken der Visite zur Perfektion. In seiner Abteilung, der Kinderfachabteilung, zeigte sich durch die Übernahme verschiedener Spitalsphilosophien als Ergebnis gewissermaßen eine Essenz aus diesen unterschiedlichen Ausrichtungen der Spitalspraxis. Ärztliche Visiten haben in Militärspitälern immer schon etwas Militärisches an sich gehabt und in christlichen Spitälern etwas Christliches und in Staatsspitälern etwas Staatliches. Immer derselbe Geruch des Spitalsessens durchzieht von halb elf Uhr vormittags an das Spital, die Dünste der Spitalskost vermengt mit jenen der Hygiene. Ob nun in Militärspitälern zum Zweck der Wiederherstellung der Mordtauglichkeit oder in christlichen Spitälern zum Endzweck der Wiedererlangung der Einsicht gesundgepflegt wird, daß der Gehorsam gegenüber der staatlichen Obrigkeit christliche Pflicht sei und man daher der Pflicht des Wiederempfangens der Mordtauglichkeit unterstehe und nebenbei nichts als sterblich sei unbeschadet des allfälligen Gnadenwillens des Gottes, so berechnete man in Kerserderserkerskis Abteilung das Schicksal des zu pflegenden Patienten unter umgekehrten Vorzeichen. Im christlichen Krankensaal betete man gegen fünf nachmittags bei Dämmerung und gedachte der Sünde des Ungehorsams und ihrer Folge, des Todes also, und man warf dem Patienten, solange letzterer noch nicht eingetreten war, das Brot seiner Errettung zu, welches er herunterwürgte unter Tränen. In Kerserderserkerskis Abteilung waltete und schaltete man ähnlich wie in christlichen Registern. Nur das Brot, das ließ man in zunehmendem Maße weg. Immer schon wurde auf dem Spiegelgrund die Göttlichkeit des Professors und Unfehlbarkeit des Primars in eine Beziehung zum beklemmend weitläufigen Saal gesetzt, in dessen Bettgestellen die Kinder voller Luminal den halben Tag vor sich hindämmerten. Vormittags zur Visite hielt man sie wach. Im Krankensaal des Primarius Kerserderserkerski lebte man sowohl die militärische, die christliche als auch die staatliche Spitalsidee. Der Staat gab die Macht und lieferte die Spritzen, das Christentum ermahnte die Menschen in ihren Betten, wenn der Primar sie in seine ernsten Blicke faßte, zum Gehorsam und zur Barmherzigkeit, die sie selbst eigentlich nicht verdienten, die militärische Idee verlieh dem Gesamten dann seine bestimmte Ordnung. So pflegte Professor Primarius Kerserderserkerski mit seinem unter dem Revers versteckten Totenkopfabzeichen in solchen Visiten die Hierarchie einer ausschließlich seiner Gewalt unterstehenden Spitalswelt ins Sichtbare zu bringen. In einer ihm unterstehenden Abteilung ließ er die Macht als Trinität walten, in staatlicher, christlicher und militärischer Ausformung. Da standen sie nun um ihn, die Doktorinnen Klein-Hübsch und Mück, die um ein weniges kleiner als hübsch wirkte und sich daher später der Verantwortung entziehen konnte und die im übrigen Ilse hieß. Die von Kerserderserkerskis Wink bald nach da und bald nach dort anberaumten und atemberaubten Pflegerinnen und die Rotkreuzschwester schritten nun zur Tat und bereiteten die sogenannte „Speibkur“ vor. Diese Prozedur unter Anwendung einer Apomorphin-Spritze übte zwar Kerserderserkerski nicht mehr eigenhändig aus, hatte aber ihre Anwendung schon vor Jahren persönlich eingeführt. Ein Wink von ihm vor drei Jahren mußte ausreichen, sie stillschweigend auch ohne seinen ausdrücklichen Befehl tagtäglich seither zu wiederholen. Er hätte ihre Nichtanwendung nicht geduldet.
Natürlich stand hinter der Bestrafung ein höherer Sinn. Um diesen zu erfüllen, schlug man das kompromittierende Heftchen dem dreieinhalbjährigen Egon mehrfach um die Ohren, bevor die Rotkreuzschwester die Hohlnadel in eine geeignete Vene des Armes des verkrümmten Wesens in Bett 10 stieß und den Arm mit ihrer fleischig-weißen Faust fixierte, damit durch diese psychologische Komponente die Verbindung zwischen Schmerz und Schuldeinsicht jenes Wesens zustande käme, wenn sich dieses nach Anwendung der Apomorphin-Spritze heftig und unter großen Schmerzen erbrach.
Der Blick des Objektivs ist dein Blick. Jetzt hat es die Außenseite des Gebäudes eingefangen, die so kahl anmuten würde, gäbe es da nicht irgendwo in der Bildmitte im Hintergrund hoch oben eine Baumkrone des Spitalsparks. Starren Auges versetzt das Objektiv die Gebäudefassade mit seiner Fensterreihe im Parterre in schwarzweiße Erstarrung. Fließendes, glänzendes Glas ist da zum Stillstand gekommen. Hinter den grauen Fensterflächen mit einer gespiegelten Wolke Kindergesichter, da eines, dort zwei, sechs insgesamt. Man merkt, es habe vor langer Zeit unter der Oberfläche dieser Fassade etwas geschlagen wie unter der Rinde von Daphnes Baum, dreimal noch oder viermal hatten die Herzen hinter dem Stein des Gemäuers geschlagen, bevor das Bild historisch wurde. Die Kinderköpfe, unterscheidbar durch die unterschiedliche Haartracht, verraten Ansätze einer individuellen Kopfhaltung. Es ist dein Blick, der in den Zeittrichter blickt, aus dem sie dir etwas zurufen. Hinterglaskinder nennt man sie. Ihre sechs Köpfe hätten sechs unterschiedliche Haltungsentwürfe entwickelt, hätten nicht ein Professor Kerserderserkerski und ein Primarius Gross in sie hineingeschnitten und ihre Hirne konserviert. Es ist dein Blick, während all deine anderen Sinne ausgeschaltet sind, während du diese Fotografie betrachtest. So sieht die Welt einer, der taub ist, vollständig taub. Du kannst nur die Lippenbewegungen lesen ---
Ich muß eingestehen, daß ich den Krankensaal zu diesem Zeitpunkt verlassen hatte. Ja, ich beschäftigte mich sogar mit ganz anderen Dingen als mit der an Egon vollzogenen „Speibkur“, immer auf der Suche nach Wörtern, beispielsweise für die Gerüche aus den dampfenden Kesseln in der Spitalswäscherei oder für den Wasserdampf, der aus ihnen in den Spätnachmittagshimmel dieses Frühlingstages stieg. Alles hatte einen Namen, alles ließ sich in Wörtern ausdrücken, die ich kaufen und mit einem Gewinn für den Käufer wiederverkaufen konnte. Mein Wörtergeschäft ist nämlich nicht sehr einträglich, weder en detail noch en gros. Mir bleibt immer nur die Idee. Ich lebe beinah von der Luft und von den Gedanken über mich in den Köpfen der Menschen. Gedanken über mich gehen selbst dann zuweilen in diesen Köpfen herum, wenn sie schon unter dem Fallbeil liegen. Da bleibt nicht viel für mich übrig. Immer geht es nur um den Wörterhändler, nur selten läuft ein Geschäft für ihn. Ich trat also aus dem vierfach verriegelten Kerker der „Kinderfachabteilung“ des Kerserderserkerski in den Park des Spitals und sammelte die Namen der seltenen Blumen, die dort wuchsen. Ich will nicht ununterbrochen gedacht werden. Wenn ich mich also dieser Vereinnahmung, dieser regelrechten Einsaugung durch die Gedanken meiner Umgebung entziehe, so verziehe ich mich am liebsten zu den Wildblumen, denn diese wachsen überall auf den fünf Kontinenten, wo mich vereinnahmende Menschen wohnen.
Währenddessen aber nahm ein anderer Blick – es ließ sich für die Anwesenden nicht sagen, um wessen Blick es sich handelte – den Saal I in sich auf. Ich muß zur Erklärung hinzufügen, daß ich als Worthändler über besondere Techniken verfüge und sie zur Anwendung bringe, über Techniken, die auf eine ständige Beobachtung eines möglichst breiten Umfeldes abzielen, auch wenn ich mich an einem bestimmten Ort, den ich hinsichtlich einer Beobachtung für wichtig und lohnend erachte, gerade nicht selbst in Person aufhalte.
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