Dann lasse ich meinen Blick zurück. Mein Blick – durchaus ähnlich dem des Objektivs, er konserviert für sehr lange Zeit, angeblich – nun ja. Er blickt einen aus den Lüften an. Er kann immer gegenwärtig, ja sogar allgegenwärtig sein. Er ist der Stempel aller Ideen des Menschlichen. Er prägt das Bestreben der Angeblickten und gibt ihnen eine Ausrichtung hin zum Richtigen. Ja, es ist mein Blick, den ich von mir loslöse und auf Reisen schicke, und wenn wir einander wiederbegegnen, so frage ich ihn:
„Nun, was hast du gesammelt?“
Mein Blick antwortet mir. Mein Blick nimmt die Dinge in sich auf, als hielten Hände in seiner Mitte, an dem feurigen und unversiegbaren Feuerquell seiner Blickstrahlen z.B. zu einer Schale geformt, alle Welt fest und fingen die leichten Sachen auf, die sonst zu Boden und in den Abgrund gefallen wären. Die übergibt mein Blick mir dann schweigend.
Ich ließ also statt meiner selbst diesen Blick zurück, der von mir losgelöst die Räume für mich durchforstete und statt meiner selbst die Namen von allen Dingen herunternahm und sie für eine spätere Schätzung durch mich ordnete. Mein Blick streifte losgelöst von mir und daher so leicht durch das Anstaltsgelände, trat in einen anderen Pavillon, den Mädchenpavillon, ein. Er sammelte Namen, den Namen zum Beispiel für das linke vordere Eisenbein, das auf einer kalten, zersprungenen Fliese stand und zu einem Bett gehörte, in dem ein kleines und fast nacktes Mädchen lag. Der Blick, mit dem ich in ständiger Gefühlsverbindung stand, obwohl ich selbst, wie ich schon sagte, kilometerweit durch die Wälder und Blumenwiesen neben dem Spiegelgrund gelaufen war und jetzt ganz oben auf den Hügeln stand, die sanft zum Häusermeer der Stadt hin abfielen und wo es nach jungen Weinreben duftete, dieser Blick also funkte mir gewissermaßen die Wörter zu, die Wörter für die Dinge, damit ich sie sogleich in meine Wortbestände aufnahm und sie gedanklich in meine Wortregister und auf meiner Habenseite eintrug.
Niemals kann mein Blick von den Dingen loskommen, und ich dadurch auch nicht. Hätte man mir vorwerfen können, daß ich mich selbst losmachte von den am Pavillon 15 beobachteten Vorgängen?
Der Blick – mein Blick – schweifte durch den Saal und fand unten bei den Steinfliesen wie einen kleinen Lacksplitter den Namen für jenes Eisenbettbein. Hinter dem Blick standen keine richtigen Augen, und doch schweifte er durch den Saal, wurde einmal langsamer bei diesem oder bei jenem Bett, schaute über den Rand dieses einen genannten Bettgestells auf einen rachitisch verkümmerten Mädchenkörper von fünf Jahren, mein Blick ruhte lang auf dieser Vorgestalt eines großen Gefühls und eines kurzen Frühlings, es war mein Blick und stammte doch aus einer unversiegbaren anderen Quelle voller Glanz, er schweifte weiter und blieb doch in Form einer flaumleichten Schicht aus Blicken auf diesem weiß schimmernden Körper des Mädchens liegen.
Eines Tages werde ich meinen Blick zurückgeben müssen. Dann werde ich Rechenschaft abzulegen haben für alles, was er sah. Ich werde Rechenschaft ablegen müssen für alles, was ich selbst nicht sah. Wahrscheinlich werde ich sagen:
„Ich habe mein Gefühl ausgeschickt“.
Wer wird mich dann verstehen? Ich sah mit meinem Blick, der von mir fort auf weite Reisen ging, immer das, was ich sehen wollte zu einer sanften Musik ---
Dieser Blick, der irgendwie so zu mir gehört wie der Sohn zum Vater, kehrte sodann in den Pavillon XV zurück, zur Speibkur, nahm jetzt besonders das Heftchen mit den blaßblauen Seiten in Augenschein, da war ein Kerserderserkerski plötzlich abwesend, denn dieser Blick besitzt die Angewohnheit, nur das Schöne, Wahre und Gute zu sehen oder, wie in diesem Fall, sehen zu wollen , und den Rest auszublenden und nie lange hinzusehen. Darin kann man gewiß keinen Anlaß eines Vorwurfes suchen, schließlich hat sich dieser Blick nicht selbst erschaffen, sondern er existiert einfach so gemäß seiner Art. Außerdem hinterläßt er stets etwas Hilfreiches, er machte beispielsweise das Unverwechselbare des nackten, verkümmerten Körperchens des Mädchens unvergänglich, weil er auf diesem nackten Mädchen mit seinem Flaum des Frühlings ein Wort fand, das die genaue Bezeichnung für dieses Mädchen ausdrückte. Dieser Blick also blieb auf der zufällig aufgeschlagenen ersten Seite des Heftchens Egons liegen. Diesmal hob er sich aber nicht mehr wiederum auf, um seinen kleinen Trost in Form der federleichten Schicht auf den ineinander verschlungenen Buntstiftlinien zu hinterlassen. Vielmehr suchte der Blick geduldig in dem Labyrinth von Buntstiftfarben, darin eingeschlossenen Ungeheuern samt ihren Opfern, Märchenwesen, Mädchengestalten, einen Anfang, ein Alpha, ein zustimmendes Nicken (wie dieser Blick bei sich dachte), denn es interessierte den Blick, der so von Bett zu Bett tastete, sehr, welche Geschichte eigentlich in den blaßblauen Seiten des Schulheftchens geschrieben stand.
Da hob sich also der schwarze Umschlag aus versteiftem Papier wie ein Theatervorhang auf. In diesem Augenblick aber fühlte ich mich wie von etwas Glühendheißem berührt und aus meiner Hingabe zu einer der Wildblumen am Wegrand geweckt und fortgerissen, als hätte mich aus Egons Heftchen eine Stichflamme versengt und wäre in meinen Blick hineingefahren, in meinen verläßlichen Gefährten, der letzten Endes von genau derselben Wesensart ist wie ich selbst. Und plötzlich fand ich mich wieder mit meinem Blick vereint, von dem ich ja doch niemals lassen werde und er nicht von mir.
So fing ich mit meinen Augen den Buntstiftlinien in Egons Zeichnungen zu folgen an. Ich nahm die Spur auf und folgte der hundertfach verschlungenen Buntstiftlinie, die Egon auf jene Seite gezeichnet hatte, aufmerksam.
Egons bunte Lebensaufzeichnungen, der am Spiegelgrund seiner Wörter tauchend umkam
Und da ging es mit uns los. Das Heftchen Egons nahm uns auf in sich. Wir spürten plötzlich eine gewaltige Kraft davon ausgehen, die uns dazu herausforderte, alle Wörter aufzulesen, die darin gesammelt lagen, die aber nur dem Sammlerauge eines Wörterhändlers, einem Auge wie dem unseren zugänglich und erkennbar waren, wo andere Augen nur ein wildes Gekrakel einer Kinderhand wahrnahmen, dem man einen Buntstift in die Hand gedrückt hat.
Mein Blick (fremd ziehe ich aus von mir, wenn ich ihn von mir ausschicke) streifte noch einmal am Titel „Am Spiegelgrund meines Lebens liegen die Wörter“. Dann tauchten wir unter. Wir gerieten gleichsam erst einmal auch mit unseren Atmungsorganen unter die Oberfläche von Egons Buntstiftlabyrinthen, gewannen rasch wieder die Orientierung, hielten uns fest. Ich glaubte feststellen zu können, im ersten Drittel des Heftchens etwa auf der achten Seite wieder an die Oberfläche getaucht zu sein. Ja, jetzt fühlte ich meinen Blick in seiner Gänze wieder sicher in mir verankert (und nur in manchen lang vergangenen Fährnissen meines Lebens, besonders in einer Nacht in einem Garten der Einsamkeit, in meiner Einsamkeit ganz allgemein, die mich immer umgibt, habe ich meinen Blick zuvor schon einige Male so völlig aus mir herausgewichen gefühlt wie hier am Spiegelgrund).
Ich klappte das Heft zu, öffnete es wieder, kehrte zurück. Jetzt aber blickte ich wie kaum je zuvor, und ich trat in Egons blaßblaues Heftchen ein. Ich ließ meinen Blick schalten. Ich vertraute ihm, mit dem ich schon, seit ich von mir weiß, Zwiesprache halte, weil er mein einziger Gefährte ist, den ich immer und immer und seit jeher in die Welt ausschicke, und dennoch immer allein gewesen bin. Daraufhin legte mein Blick sich auf eine der Buntstiftbahnen und nahm Fahrt auf. Noch während der ersten Beschleunigung (es handelte sich um eine grüne und sehr kurvenreiche Bleistiftlinie, später, nach rasch gewonnener Höhe wie auf einer Schweizer Alpenstraße, wechselte sie in ein intensives Ockergelb) tastete der Blick in die Richtung, aus der das Geräusch des sich erbrechenden Kinderkörpers zu ihm drang. Allein, da er nur das Schöne, Wahre und Gute sehen konnte und wollte, gab es da nur den im Frühlingslicht daliegenden Saal mit weit geöffneten Fenstern, als hätte ein Kerserderserkerski und eine das Apomorphin spritzende Rotkreuzschwester keine Existenzmöglichkeit in einem solchen geklärten Stadium einer Weltschöpfung. Der Blick sah also nicht direkt hin, er tastete aber nach diesem Körper, der irgendwo in diesem Frühlingssaal sich schier die Eingeweide aus seinem Inneren erbrechen wollte.
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