Hinter dieser angeblichen Menschenfeindlichkeit des Weltraums steht das destruktive Kontinenz-Ethos, welches postuliert, das die Erde "menschenfreundlich" und ihm angepasst sei, und das Weltall im Umkehrschluss menschenfeindlich sei. Und damit spricht alles dafür, sich mit dem gegebenen Lebensraum zu bescheiden - das Kontinenz-Ethos wird damit zur Antithese der Omnipotenz. Allerdings ist die "lebensfreundliche Erde" ein Konstrukt; der Mensch ist tatsächlich am unangepassten, denn erst durch das teilweise Außerkraftsetzen evolutionärer Mechanismen durch zum Beispiel Wissenschaft, Technik, Medizin usw. hat sich der Mensch eine lebensfreundliche Umwelt hergestellt; das begann mit der Sesshaftigkeit, mit Ackerbau und Viehzucht. Daher an alle Ökos, Grünen, "Umweltschützer", Alternativ-Lebenden usw.: das Programm eines "Friedens mit der Natur" ist irreführend; primär bedroht die Umwelt, die "Natur" den Menschen und nicht umgekehrt - was aber nicht ausschließt, unnötigen oder zweckwidrigen Natur"verbrauch" zu vermeiden! Da für kein Lebewesen seine Umwelt weiträumig und langfristig stabil ist, muss auch der Mensch, wenn er denn überleben will, bereit sein, jeweils den Status quo seiner Naturbewältigung zu überschreiten. Optimal ist ein Ethos der Transzendenz, denn es entspricht unserem Überlebensinteresse; nach ihm wird versucht, die "Natur" mit Umsicht und Maß permanent zu instrumentalisieren.
Dagegen impliziert das Kontinenz-Ethos technische Degeneration und führt prinzipiell zum Aussterben. Dessen Kritik an der (bemannten) Raumfahrt und anderen großtechnischen Innovationen ist jedoch ein Luxus, den sich nur hochtechnische Nationen für kurze Zeit leisten können, denn erst kommt das Fressen und dann die Moral. Generell werden vorgegebene (Umwelt-)Grenzen durch utilitäre und transutilitäre Kulturerrungenschaften überschritten; die irdische Lufthülle ist genauso wenig eine natürliche Barriere menschlichen Lebensraums wie die Alpen oder der Atlantik...
Die rein utilitäre Beurteilung der bemannten Raumfahrt ist zweifelhaft und greift zu kurz. Statt dessen müssen ihre Opponenten aufzeigen, dass die Realisierung bestimmte Zwecke verlangt oder es nahelegt, eine weitere Mitwirkung zu unterlassen. Wer nämlich zur Unterlassung einer Option auffordert, hat andere Gründe als jemand, der für deren Aufnahme argumentiert. Die "Ethik der Technik" fragt bei jeder technischen Neuerung nicht zuerst, ob der Nutzen die Kosten übersteigt, sondern zu welchem Zweck Maschinen und Geräte verwendet werden. Die Technik-Ethik fragt nach der Kulturfunktion der Technik; mag der wirtschaftliche Nutzen auch ein möglicher und wichtiger Aspekt der Kulturfunktion sein, geht diese aber nicht in der Nutzenfunktion auf. Spricht irgendjemand davon, welchen Nutzen die Entdeckung Amerikas hat oder vom Nutzen der Erfindung des Buchdrucks? Die Frage, ob wir uns bemannte Raumfahrt leisten können und sollen, lässt sich nicht mit utilitären Argumenten beantworten, denn genauso wenig gibt es utilitäre Rechtfertigungen für den Unterhalt von Orchestern, Museen oder für die Ausrüstung von Expeditionen oder für die Arbeit an (genialen) Erfindungen. Zwar leistet die bemannte Raumfahrt ihre Beiträge für die Realisierung bestimmter Zwecke, aber das machen andere technische und sonstige kulturellen Optionen auch; allerdings ist die Besiedlung von Raumkörpern nur durch sie zu realisieren.
Würden nur utilitäre Gründe technische Errungenschaften rechtfertigen, gäbe es in unserer Geschichte keine gerechtfertigten Kulturoptionen. Das gilt auch für die zeitliche Variante, kulturelle Optionen zurückzustellen, bis gewisse Probleme gelöst sind, zum Beispiel die Welthungerkatastrophe, das Waldsterben, und dann erst zum Mond usw. zu fliegen. Aber Raumfahrt löst sowohl direkt als auch indirekt zum Beispiel Hungerprobleme über Satelliten. Raumfahrt-Großprojekte wie die ISS und andere technische Großprojekte wie der Bau und der Betrieb etwa von Teilchenbeschleunigern wirken friedensschaffend und -erhaltend in dem Sinn, dass Nationen zusammenwachsen und sich gegenseitig respektieren und vertrauen und dadurch zusammenwachsen und z.B. politisch-kulturelle Barrieren abgebaut werden. Im Übrigen ist es unvorstellbar, großtechnische Optionen bis zum Tag X nur als Potenzial aufzusparen, denn "Können" lässt sich nicht konservieren. Ließe man also in der Argumentation um Raumfahrt als kulturelle Option nur utilitäre Argumente zu, würde man die Menschheit auf eine Großherde möglicherweise zufriedener, grunzender Affen reduzieren, die allerdings wohl vor geraumer Zeit an Selbstbescheidung zugrunde gegangen wären. Skeptiker und Kritiker vom Sinn, Nutzen und überhaupt von der Idee der bemannten Raumfahrt zu überzeugen, kann und wird kaum bis gar nicht gelingen, denn das ist Ansichtssache, ist eine Glaubensfrage. Da geht es um (irrationale) Prinzipien.
Und dennoch - was treibt Menschen an, sich mit dem Weltraum auseinanderzusetzen? Da gibt es sehr viele und sehr unterschiedliche Antworten. Den Befürwortern bleibt nur, den Appetit anzuregen und Begeisterung zu wecken, am besten die Beweis- und Argumentationslage umzukehren. Hilfreich könnte es auch sein, Ziele vorsichtiger und realistischer zu formulieren (bis dann die technologische Singularität kommt und alles schneller und vor allem anders wird). Der Weltraum sollte weiter erkundet werden, um zu erforschen, zu verstehen und zu vereinen. Seine Erforschung spricht den kulturellen Imperativ an, der darin besteht, unsere Erfahrungsgrenzen auszuweiten, weiter voranzugehen und zu lernen, die Öffentlichkeit zu inspirieren und zu bilden, damit sich diese engagiert. Der wissenschaftliche Imperativ besteht darin, Wissen zu vermehren und zu verstehen, was uns im Universum umgibt, Antworten auf fundamentale Fragen über unseren Ursprünge und Ziele zu finden und menschliche Erfahrungen und technologischen Fortschritt zu bewahren und fortzusetzen. Der politische Imperativ der (bemannten) Raumfahrt ist der, globalen Unternehmungen ohne nationale Grenzen den Weg zu bereiten. Weiterhin geht es um die vereinte Nutzung der Möglichkeiten, die der interplanetare und später der interstellare Raum bieten.
Raumfahrt fasziniert eine breite Bevölkerung, sie gilt als Hochtechnologie an sich und bringt einen vielfältigen Nutzen für die Gesellschaft und Politik. Sie ist innerhalb zweier Kategorien begründet; dem utilitären Ansatz, das heißt als Instrument um politische und wirtschaftliche Ziele zu verfolgen und zum anderen ist sie wertgebend für Gesellschaft und Kultur, also transutilitär. Die utilitäre Raumfahrt dient der Entwicklung von Märkten und der Schaffung von Arbeitsplätzen. Sie wird für Kommunikation, Mobilität, zur Umwelt-, Wetter- und Klimaüberwachung und zur Wettervorhersage genutzt. Sie dient dem Katastrophen- und Ressourcenmanagment. Als Technologiefeld liefert sie wichtige Beiträge zur Innovation, Verlässlichkeit, Qualität, Miniaturisierung und der Entwicklung neuer Werkstoffe. Durch die spezielle Weltraumumwelt, also Schwerelosigkeit, Hochvakuum und tiefe Temperaturen werden im All hergestellte Industrieerzeugnisse zur Produktion von Gütern führen, die auf der Erde gar nicht oder nur unvollkommen oder sehr aufwendig herstellbar sind; unter anderem Schaummetalle, neuartige Legierungen und Schmiermetalle. Ultragenaue Latexkugeln, um Elektronenmikroskope zu kalibrieren. Hohlkugeln für Kugellager, um Wirkungsgrade von Gasturbinen zu erhöhen, Glasfasern für optische Nachrichtentechnik sowie Halbleiter und andere elektronische Baudelemente. Weiterhin Pharmazeutika, ultrareine Materialien, Monokristalle und submillimeterdünne Siliziumschichten als Träger für elektronische integrierte Baudelemente. Löt- und Schweißverfahren lassen sich in der speziellen Weltraumumwelt effektiver gestalten.
Auch wenn der gesamte Transportbedarf von anfangs einigen 10 Kilotonnen jährlich für weltraumgestützte Industrieanlagen beträchtlich ist, ist allein der Ausblick auf vorteilhafte Weltraumprodukte kurzsichtig; bei hinreichend geringen Transportkosten - etwa durch den Fahrstuhl ins All - gibt es weitere sehr gute Gründe, die Großindustrie soweit wie möglich ins All (oder aufs Meer) zu verlegen: Es steht fast unbegrenzte solare Energie zur Verfügung, die Erde wird von allen Belastungen als Folge dieser Energieproduktion befreit, die Industriegelände werden für andere Zwecke frei - auch zur Renaturierung, die Umweltbelastungen und -Schäden, die durch irdische Industrie anfallen, werden beseitigt. Die transutilitäre Raumfahrt erweitert unser Wissen und unseren Horizont, sie liefert Kenntnisse vom Ursprung und der Vergangenheit des Universums mit Blick in die Zukunft. Sie stimuliert Neugier und Entdeckergeist, gestaltet das Weltbild und die naturwissenschaftliche Kultur. Sie fasziniert und inspiriert, liefert Authentizität und Identifikation und schließlich einen schwer vorhersehbaren aber virulenten Gewinn von Prestige, von Ansehen, Macht und Einfluss durch die Meisterung der Aufgaben der Raumfahrt.
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