Utilitäre und transutilitäre Raumfahrt
Es stellt sich vor allem die Frage, ob Raumfahrt Werkzeug oder Selbstzweck ist; sieht man sie nur als Werkzeug, als Mittel zum Zweck, gehen utilitäre Gründe wohl vor. Doch wird sie zum Selbstzweck, zur Selbstverständlichkeit, ist sie ein Selbstläufer und somit über jeden Zweifel erhaben... Während der Nutzen der unbemannten Raumfahrt weitgehend unbestritten und die gesellschaftliche Akzeptanz im Gegensatz zu Atomkraftwerken, Gentechnik usw. gegeben ist, ist deren wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Erfolg fatal für die bemannte Raumfahrt, da diese unter Druck gerät, wenigstens langfristig die gleichen Erfolge zu erzielen. Außerdem verläuft die Diskussion in den Bahnen von Kosten-Nutzen-Abschätzungen und der Nutzen sollte sich unmittelbar oder wenigstens mittelbar einstellen. Selbst Wissenschaftler betrachten wissenschaftliche Einsichten vorrangig unter Berücksichtigung eines wenigstens mittelbaren wirtschaftlichen Nutzens. Außerdem müssen sowieso schon knappe Forschungsetats für Teilchenbeschleuniger, Teleskope, Raumfahrt u.v.a.m. auch noch aufgeteilt werden. Das dann Egoismus, Neid, Vorurteile und Emotionen hochkochen, dürfte nicht verwundern, denn selbst Wissenschaftler sind auch nur Menschen. Die Gegner der bemannten Raumfahrt sind davon überzeugt, dass sich die Funktionen des Menschen durch unbemannte Raumflüge ausgleichen oder überkompensieren lassen; der Mensch also einen Störfaktor darstellt. Sie halten die bemannte Raumfahrt für überflüssig, da die hohen Kosten den erkennbaren Nutzen übersteigen.
Das war in den 1950ern und 1960ern noch anders: Gagarin, Wostok, Mercury, Gemini, Apollo - das war eine Zeit voller Aufbruchsstimmung, aber auch der kulturellen Krise angesichts der demoralisierenden Erfolge der russischen Raumfahrt. Doch mit Apollo 11 wurde schließlich das Wettrennen zwischen den Supermächten des kalten Krieges von den USA gewonnen. Mit der ersten bemannten Mondlandung bewies sie als Inbegriff des Kapitalismus ihre politische, wirtschaftliche und militärische Überlegenheit über die SU und den Sozialismus. Apollo 12 bis 17 (eigentlich sollte es bis Apollo 22 gehen) galten dagegen als bloße Wiederholungen, wobei böse Zungen behaupten, dass Apollo 13 inszeniert war beziehungsweise der NASA ganz gelegen kam, da diese Beinahe-Katastrophe das Interesse an der bemannten Raumfahrt noch einmal steigerte... Doch dann fehlten Erfolge und Visionen, das Wettrennen war gewonnen und das Geld wurde knapp - auch wegen dem Vietnamkrieg. War der Konflikt der unterschiedlichen wirtschaftlich-politischen Systeme kurzfristig ein Segen für die bemannte Raumfahrt, wurde ihr das langfristig jedoch zum Fluch; mit dem Wettlauf-Gedanken tat man ihr kein Gefallen, da man dort langfristig und nachhaltig planen und handeln muss. Schnelle Gewinne lassen sich kaum erzielen, aber das ist auch wider ihre Natur.
Raumfahrt, vor allem bemannte Raumfahrt begann als Wettlauf zwischen den Supermächten, um die Überlegenheit des jeweiligen Systems zu beweisen. Seinerzeit entschieden die USA das Rennen auf dem Mond für sich, dann erlosch der Kampfgeist. Aufbruchsfantasien und Pionierträume bezüglich Vergnügungsreisen in den Erdorbit, Weltraumhotels, autarke Raumstationen für Zehntausende Menschen, Basen auf dem Mond und den Planeten - ja selbst die Pläne zur Besiedlung der Milchstraße zerschmolzen im Vietnamkrieg, Watergate und der Ölkrise. Rückblickend scheint der Erfolg des Apolloprogramms nicht zuletzt auch philosophisch und psychologisch zu sein; der Blick aus dem Weltraum auf die Erde schärfte das ökologische Bewusstsein.
Indem die Befürworter nach Lücken und Unsicherheiten in den gegnerischen Argumenten suchen, erkennen sie indirekt die Kosten-Nutzen-Betrachtung an statt den gegnerischen Standpunkt prinzipiell anzuzweifeln oder zu widerlegen. Der Diskussionsrahmen ist international sehr unterschiedlich; in amerikanischen, sowjetischen und französischen Kreisen werden internationale Kooperation, nationale Identität, menschliche Entdeckungsleistung, Weltbildfunktion der Raumfahrt und Besiedlung des Weltraums und andere nicht- beziehungsweise transutilitäre Gründe und Perspektiven angeführt. Seltsamerweise stimmen Gegner und Befürworter überein, dass die Anwesenheit von Menschen im Orbit gerechtfertigt ist, wenn der - kurzfristige - Nutzen überwiegt. Damit wird die ihre kulturelle Aufgabe implizit nicht anerkannt.
Würden wir Menschen technische Instrumente quasi-naturwüchsig hervorbringen, würden die Folgen technischen Handelns frei von Kritik. Eine Handlung, deren Nutzen geringer als deren Kosten beziehungsweise Aufwand ist, muss trotzdem nicht zwecklos sein; transutilitäre Zwecke rechtfertigen sie. Eine transutilitäre Beurteilung ist nicht-monetär und transutilitäre Einschätzungen sind auch dann rational, wenn sie eine gerechtfertigte allgemeine Geltung beanspruchen. Wird die bemannte Raumfahrt aber wie "Apollo" im kalten Krieg dazu verwendet, die Überlegenheit eines Gesellschaftssystems zu demonstrieren, erzeugt diese Zwecksetzung potenziell Konflikte und ist somit ethisch verwerflich. Das gilt auch für die Erzeugung und den Erhalt der politischen Führungsrolle einer Nation etwa mittels SDI, Raumwaffen usw. Vor allem die bemannte Raumfahrt wird durch 2 Gruppen von transutilitären Zielen gerechtfertigt: die eine umfasst Zwecke, die zur politischen Kultur auf der Erde beitragen, etwa die Realisierung einer „polyzentrischen Weltordnung“, die „europäische Integration“ und Beiträge zur Ausbildung einer „nationaler Identität“.
Eine polyzentrische Weltordnung bedeutet eine gerechte Weltordnung in der keine Nation gleichrangig mit anderen ist, sondern "Gerechtigkeit" meint gerechtfertigte Ungleichheit; jede Nation hat ihre Stärken und Schwächen und ist auf einem bestimmten Gebiet gut. In ihr wetteifern die Nationen miteinander, jedoch ohne dass eine Nation X irgendeine Führungsrolle anstrebt, sondern eher eine Symbiose mit anderen eingeht. Also ist es nicht sinnvoll, nur eine Raumfahrtnation zu haben. Die zweite Gruppe umfasst Beiträge, die auf die Verwirklichung einer kosmischen Kultur abzielen; dazu zählen die „Erkundung des Universums“ und die dadurch bewirkte Erweiterung des menschlichen Weltbildes, die „Verbesserung des allgemeinen technischen Standards“, sowie die „Besiedlung“ natürlichen und künstlichen Welten. Bemannte Raumfahrt ist allein schon als großtechnische Option sinnvoll. Während sie ein mögliches Mittel für die Verwirklichung der polyzentrischen Weltordnung ist, ist sie für die Verwirklichung der Besiedlung des Weltalls das einzige Mittel. Unabhängig von utilitären Faktoren wie die Wartung unbemannter Systeme oder die Gewinnung von Sonnenenergie im Raum (siehe Oberth, Barth, Koelle usw.) ist die Besiedlung künstlicher und/oder natürlicher Raumkörper als technischer Fernzweck anzusehen.
Die Lufthülle der Erde bildet nur aus pragmatischen Gründen wie etwa der Strahlungsbelastung eine Grenze; durch bemannte Unternehmen lassen sich solche möglichen Barrieren erforschen und Erkenntnisse zur Möglichkeit ihrer Überwindung gewonnen. Das der Weltraum "menschenfeindlich" ist, zählt nicht als Argument gegen dessen Besiedlung, denn selbst die Erde ist für einen Menschen ohne Technik "menschenfeindlich". Nur aus prinzipiellen, selbstauferlegten Gründen, die aus dem "Ethos der Kontinenz" folgen, würden Erkundungs- und Besiedlungsabsichten an der Erdhülle enden. Mit der impliziten Beschränkung auf utilitäre Zwecke geht ein zur Zeit mit großer Resonanz verkündetes Ethos der Selbstbescheidung einher; dieses fordert, dass sich der Mensch mit dem Stand der erreichten Technik zufrieden geben oder sogar z.T. eine Rückentwicklung in Kauf nehmen solle... Die in diesem Milieu vegetierende kontraproduktive "Ethik der Verantwortung" verlangt im Zweifelsfall, sich gegen eine technische Innovation zu stellen. Für die bemannte Raumfahrt bedeutet das konkret, die Menschheit solle sich mit dem Lebensraum Erde zufriedengeben und nicht darüber hinausstreben(!)
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