Er fragte sich, als er noch jung und kein Oberhaupt war, was dahinter steckte, hinter der Macht von Moureu und der Geister der Familie. Von seinem sterbenden Vater erfuhr er die Wahrheit, sie übertraf alle seine Vorstellungen. Herr Yi wurde, ohne mit der Wimper zu zucken, für den Herrn Moureu sterben. Sofort … an Ort und Stelle.
Herr Moureu und Herr Yi unterhielten sich eine Weile, sprachen über die Familie, Kinder, Geschäfte, tranken Tee. Wenn sie alleine waren, sprachen sie sich per du an, aber sobald jemand in der Nähe war, waren sie wieder per Sie. Nach außen sollten der Abstand und der Respekt gewahrt bleiben.
Das Lämpchen an einem der Tische leuchtete auf, kaum feststellbares Summen war zu hören. Herr Yi drückte auf einen versteckten Knopf am Tisch neben ihm, das pulsierende Lichtchen erlosch, Alarmsummen verstummte, worauf die Tür zum Arbeitsraum aufging und ein ziemlich aufgeregter junger Mann erschien. Er blieb vor den sitzenden Herren stehen, verbeugte und entschuldigte sich mehrmals für die Störung, beugte sich zum Herrn Yi und wollte gerade etwas sagen. Herr Yi winkte ihn mit der Hand ab, sein Gesicht wurde krebsrot.
»Es gibt keinen Grund vor dem Gast der Familie zu flüstern! Das hat und wird es nie geben. Das ist eine Beleidigung, du Tölpel!«, sagte Herr Yi vorwurfsvoll.
Der junge Mann war offensichtlich beschämt und antwortete sofort mit lauter Stimme:
»Ein Besucher bittet um Empfang, er sagte, er wäre ein Vertreter der chinesischen Regierung. Er möchte unseren Gast sprechen. Wir halten ihn unten an der Information fest.«
Herr Yi überlegte kurz, stand auf und befahl:
»Niemand weiß über unseren Gast Bescheid. Startet den Hubschrauber, gibt Alarm. Niemand darf das Haus betreten, keiner darf es verlassen. Niemand.« Herr Yi wandte sich seinem Gast zu: »Herr Moureu, gehen wir nach oben zum Hubschrauber. Wir fliegen Sie sofort aus, auf das Boot, zum Flughafen, wo auch immer Sie wollen.«
Moureu saß still, überlegte, fragte schließlich den jungen Mann:
»Wer ist der Besucher?«
Der junge Mann reichte Moureu ein Bündel Papiere, Brieftasche und ein Handy, gab als Antwort:
»Diese Sachen gehören ihm.«
Moureu nahm die Sachen an sich und durchsuchte den Inhalt der Brieftasche, fand diverse Ausweise, einen Diplomatenpass, durchblätterte alle Papiere, nahm sich das Handy vor. Zuerst schaute er sich die gespeicherten Nummern an, dann wen der Besucher alles angerufen hatte, von wem er angerufen wurde. Bei einer Nummer blieb er stehen und machte das Handy aus. Offensichtlich zufrieden mit der Untersuchung, sagte er etwas entspannter zum Herrn Yi:
»Wir müssen nicht unbedingt sofort weg, lassen Sie bitte zuerst den Besucher herein. Hören wir uns an was er zu sagen hat, dann wissen wir mehr. Hubschrauber soll trotzdem startbereit bleiben. Geben sie Großalarm, so wie Herr Yi eben befahl.«
Herr Yi nickte dem jungen Mann zu, worauf dieser schnellen Schrittes den Raum verließ. Die Herren gingen wortlos in den Raum nebenan. Dieser Raum war nur für unliebsame Besucher gedacht, ohne Fenster, mit gefliestem Boden, Wänden aus Spiegeln und mit billigen Gemälden behangen. Die Möbel waren stabil und schwer. Einige Minuten später betraten mehrere Männer den Raum, zwischen ihnen war der Besucher. Auf Herrn Yis Kopfnicken verließen die Begleiter den Raum, der Besucher blieb Mitte im Raum stehen. Es war ein Chinese, älter als sechzig, mittelgroß und von sehr kräftiger Statur. Er wirkte und bewegte sich wie ein Ringer, was er bestimmt auch war. Sein Anzug schien neu zu sein, von einfacher Qualität, passte nicht zu seiner Figur, als ob er ihn gerade auf gut Glück gekauft hatte. Offensichtlich kam er nicht aus der neuen Oberschicht, legte jedoch Wert auf korrekte Erscheinung. Die Männer des Herrn Yi waren nicht zimperlich bei seiner Durchsuchung gewesen, wodurch das Hemd und die Krawatte zusätzlich gelitten hatten.
Moureu schaute Herrn Yi an, unter sich brauchten sie keine Worte, sie verständigten sich mit ihren Blicken. Moureu fragte den Besucher:
»Wer sind sie? Was wollen Sie von mir?«
Ohne seinen Kopf oder die Augen zu bewegen, schaute sich der Besucher im Raum um. Er registrierte alles. Sollte er ein falsches Wort sagen, eine falsche Bewegung machen, dann wird er den Raum lebendig nie mehr verlassen. Hinter den Spiegeln waren mehrere Waffen auf ihn gerichtet. Im Gegensatz zu den anderen Räumen welche er eben gesehen hatte, war der Boden gefliest, keine Fenster, es war ein Hinrichtungsraum. Der Mann atmete langsam ein und sagte steif:
»Ich heiße Yuan Chi, bin Vertreter der Regierung der Volksrepublik China. Ich bin hier, um … Ihnen und Ihrem Gast unsere Grüße und Wertschätzung zu übermitteln.«
»Was ist ihr Rang, Herr Chi?« Moureu behielt die Höflichkeit bei, obwohl die Angelegenheit sehr undurchsichtig war.
»General der Armee der Volksrepublik Chinas, Mitglied des Generalstabs, und … mehr. Es bedürfte viel Ihrer kostbaren Zeit, um alles aufzulisten«, antwortete General Chi. Seiner Haltung war tatsächlich zu entnehmen, dass er ein Soldat sei. Seine Haltung war beispielhaft stramm.
»Woher wissen sie, dass ich hier bin?« Moureus Stimme wurde schärfer.
»Wir haben seit zwei Tagen vergeblich versucht sie zu kontaktieren, suchen sie gezielt seit gestern. Familie Yi war einer der Anlaufpunkte. Wir haben von den Bestellungen und Vorbereitungen erfahren. Familie Yi hat eine besondere Feier, das war uns bekannt. Wir hofften, dass sie der Gast sein würden.«
»Ich kenne sie nicht, General Chi. Wer hat sie geschickt, wer ist das: Wir?«
»Die drittletzte Telefonnummer von welcher ich angerufen wurde. Sie ist in meinem Handy gespeichert. Das sind wir«, antwortete der General angespannt.
Moureu hatte die Nummern bereits gesehen und wusste, wer damit gemeint war. Nur deswegen hatte er dem Besucher den Zugang gewährt.
»General Chi, wird die Familie Yi weiterhin beschattet?« Moureu musste nun schnell entscheiden wie er vorgehen wird.
»Nicht meh, seit sie das Haus betreten haben. Wir waren uns nicht sicher ob Sie es sind, haben es aber gehofft. Alle sind bereits abgezogen«, antwortete der General.
»Ich wäre sehr verstimmt, falls meine Freunde, Familie Yi, weiter belästigt werden. Ich wäre sehr, sehr, unglücklich«, sagte Moureu leise. Seine Ansage war eine eindeutige Warnung, sogar mehr als das, eine klare Drohung. Der General hatte den Sinn verstanden, daher versuchte er seine Worte vorsichtig zu wählen.
»Ich kann Ihnen vor Scham nicht in die Augen schauen, es war nicht unsere Absicht Sie zu verstimmen. Die Angelegenheit ist äußerst dringend, sonst hätten wir es nie gewagt etwas Derartiges zu tun. Es geht um Leben und Tod. Ich soll Ihnen ausrichten: Der Fluss fließt rückwärts bis zur Gabelung, der Bambus wurde gefällt.« General Chi atmete ein- und aus, fügte hinzu, »das war die Botschaft.«
Moureu verstand die codierten Sätze. Es war keine gute Botschaft, aber keine dringende Botschaft von Leben und Tod, daher befragte er den General Chi weiter.
»Und die wahre Botschaft vom Leben und Tod?«
»Wir haben eine Seele für sie«, sprach der General Chi trocken aus.
»Was soll ich mit einer Seele? Als ob ich ein Priester wäre. Ha!« Moureus Stimme klang belustigt, obwohl sein Gesicht scharfe Züge annahm. Etwas stimmte nicht, bahnte sich an. Er wandte sich vom General Chi ab, sah Herrn Yi an und überlegte. In merkbar verärgertem Ton sagte er:
»Ich denke, General Chi, leider haben Sie Ihre wertvolle Zeit verschwendet. Danke für Ihre Bemühungen und die Nachrichten. Ich werde das Land der Väter so bald wie möglich besuchen. Bald. Ich wünsche Ihnen eine gute Heimreise.« Damit war für Moureu das Gespräch abgeschlossen. Etwas stimmte nicht!
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