Zoran ließ den Jogger nicht mehr aus den Augen, betrachtete dessen Hände, Arme, seine Körperbewegung. In etwa zwanzig Meter Entfernung änderte Zoran seinen Blick, so als ob er schielen würde, sah durch den Jogger durch, nahm jede Einzelheit noch intensiver in sich auf. So zu schauen, das wurde ihm einst beigebracht. Obwohl der Jogger recht schnell lief, wirkte er entspannt, seinem Körper fehlte die Aura der Gefahr. Keine Gefahr, dachte Zoran beruhigt, aber er hatte trotzdem ein ungutes Gefühl bei diesem Läufer. Während des ganzen Laufs fühlte er sich unwohl, beobachtet, fast bedroht, obwohl weit und breit niemand zu sehen war. Heute stimmt etwas nicht, stellte Zoran fest, etwas ist anders. Gut, dass er heute keinen Salat und Kräuter wie üblich von den Feldern mitgenommen hatte, so waren seine Hände frei. Er fasste sich mit der linken Hand an die rechte Seite des Bauchs, unter seiner dünnen Jacke spürte er den Griff des Messers. Wimpernschlag, mehr würde er nicht brauchen, um das Messer zu ziehen. Er nahm seine linke Hand vom Bauch und dem versteckten Messer weg, lief direkt auf den Jogger zu. Zoran war Rechtshänder, benutzte für das Messer jedoch seine schwächere, die linke Hand. Mit der Rechten würde er die Pistole aus dem Holster am Rücken ziehen, so wie er es tausendfach geübt hatte.
Der scharfe Geruch des Schnittlauchs wirkte wie ein Aufputschmittel auf ihn, seine Sinne und die Wahrnehmungen wurden intensiver. Er stufte die Menschen in zwei Kategorien ein, entweder Gefahr oder keine Gefahr. Das war schon immer so, warum, das wusste er selbst nicht, aber es war nun mal so. Dieser Jogger war keine Gefahr, nicht jetzt, aber trotzdem stimmte etwas mit ihm nicht. Auf einmal lief der Jogger grundlos schneller. Als er an Zoran vorbei lief, schaute er zum Boden, murmelte etwas vor sich hin, und war weg. Zoran sah das Gesicht des Joggers nur undeutlich. Da stimmt gar nix, das wusste er intuitiv, das Gesicht abzuwenden, das machte keiner, eher umgekehrt. Jeder der joggte, schaute direkt ins Gesicht, begrüßte offen seinen mitleidenden Kollegen. Dieser Läufer tat es nicht. Und welcher Verrückte läuft hier um diese Zeit rum, fragte sich Zoran weiter? Es war ihm egal, das Gesicht des Joggers nicht gesehen zu haben, denn er wurde ihn auch nach zwanzig Jahren, sogar von hinten erkennen. Gesicht, hin oder her. Zoran hatte die Gabe die Menschen nach Ihrem Körper, Bewegungen, oder ihrer Ausstrahlung zu erkennen, nicht nur nach dem Gesicht oder dem Namen. Die Namen konnte er sich sowieso nicht merken, wollte er auch nicht. Namen waren für ihn nicht wichtig, andere Sachen waren wichtiger. Wenn die Menschen um ihn herum nur wüssten, was in seinem Kopf vorging! Zoran hatte viele Gaben, und noch mehr Flüche, wie er selbst die ihm aufgedrückten Stempel bezeichnete.
Entspannt genoss er die letzten Meter und ließ sich von den vorangegangenen Gedanken nicht mehr stören. Als er zur Biegung zu seinem Haus ankam, welches direkt an den Feldern lag, verlangsamte er sein Tempo, holte die Hausschlüssel aus der Jogginghose und schaute sich vorsichtig nach allen Seiten um. Vor einer halben Stunde merkte er sich jedes Fahrzeug, welches in der Sichtweite stand. Manchmal blieben die Fahrzeuge über Nacht auf dem Feldweg stehen. Das waren die Autos der Bewohner aus der Wasserhofstrasse, dort gab es nicht genügend Parkplätze, oder die Fahrzeuge der Besucher der Gerbermühle. Fahrer mit zu viel Alkohol im Blut ließen lieber ihre Fahrzeuge über Nacht hier stehen, statt betrunken nach Hause zu fahren. Ein neues Fahrzeug war jetzt da, stellte Zoran fest, ein Transporter. Laut Aufschrift auf dem Wagen gehörte es irgendwelchen Handwerkern. Jemand in der Nachbarschaft hat Probleme, stellte Zoran fest, überlegte wer es sein könnte. Er kannte fast alle Nachbarn, wenn auch nur vom Sehen. So früh? Kein Handwerker kommt um diese Uhrzeit. Sehr merkwürdig. Egal. Das Verlangen nach Geborgenheit besiegte seine Gedanken, Zoran vergaß den Transporter. Für die Post war es zu früh, daher ignorierte er den Briefkasten. Zoran schloss die massive Haustür auf, betrat den breiten Eingangsbereich der ehemaligen Bahnstation, schloss die Tür hinter sich ab und ging einige Stufen hoch.
Der Jogger, welcher vorher im Feld am Zoran vorbeilief, hatte eine Querfeldabkürzung genommen und kam zum Zorans Haus zurück. Hätte Zoran noch einmal aus der Tür geschaut, hätte er den Jogger sofort bemerkt. Der Jogger lief am abgestellten Handwerkertransporter vorbei, bog nach links ab und verschwand aus der Sicht des Hauses zehn Meter weiter hinter dem Gebüsch. In der Wasserhofstrasse stieg er in einen geparkten Kleintransporter ein.
Zoran kamen einige Verse auf, in letzter Zeit passierte ihm dies öfters. Er wiederholte sie in Gedanken:
»Es ist nicht ratsam, in meiner Nähe zu sein, hält euch fern, der Tod begleitet … feiert mich gern …«
Im Raum herrschten Stille und Dunkelheit. Gardinen waren zugezogen, Rollladen vor den Fenstern heruntergelassen, die indirekte Beleuchtung reichte nur aus, um sich zu orientieren. Obwohl das leise Summen der Belüftung zu hören war, war die Luft nicht angenehm, sie roch modrig, alt, abgestanden. Das Büro war spärlich möbliert, nur ein überdimensionierter Konferenztisch mit passenden Sesseln, dem Design nach zu urteilen, wahrscheinlich aus den sechziger Jahren. Am langen hochglanzpolierten Tisch saßen zwei Männer und eine Frau, schaute bewegungslos vor sich hin. Sie waren perfekt gekleidet, die Männer trugen teuerste maßgeschneiderte Anzüge, die Frau hatte ein Designerkostüm an. Den zwei Männern sah man an, dass sie gerade aufgestanden und noch nicht ganz wach waren. Aber die Zeit für ihr Äußeres hatten sie sich genommen, waren glatt rasiert, jedes Haar ihrer Frisuren saß einwandfrei. Die Männer dürften um die sechzig sein, wirkten jedoch viel jünger, was eindeutig an deren Schönheitsoperationen lag. Die Frau war um die vierzig, recht attraktiv und sah wesentlich natürlicher aus, als die anwesenden Männer.
Die Tür des Raumes ging geräuschlos auf, ein Mann kam herein und nahm am Kopf des langen Tisches seinen üblichen Platz. Er war über sechzig, mittleren Wuchses, von sehr gepflegter Erscheinung. Seine Haare waren dünn und schwarz, daher fiel es um so mehr auf, dass er wenige hatte. Augen waren kaum zu sehen, zusammengepresst, wirkten wie Nadelstiche. Das Atmen viel ihm schwer, wie bei einem Asthmakranken. Seiner überheblichen und theatralischen Haltung war zu entnehmen: Hier hatte er das Sagen. Die Frau stand sofort auf. schaute zuerst nach links und rechts, erst dann zu dem Mann ihr gegenüber. Sie wollte anfangen, zögerte, als ob sie Angst hätte. Abwesend richtete sie ihre langen blonden Haare mit der linken Hand, obwohl es nichts zu richten gab. Es war eine reine Verlegenheitsbewegung, denn alle Augen waren auf sie gerichtet. Die Frau hatte keine Wahl mehr, musste jetzt etwas sagen. Sie sprach sehr langsam, erst jetzt war es ihr anzusehen, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Sie wirkte so, als ob sie seit Tagen nicht mehr geschlafen hätte. Ihre, fast schwarzen Augenringe, vermöchte nicht einmal das reichlich aufgetragene Make-up mehr abzudecken.
»Wir haben Es. Ausreichend bestätigt, wir haben die Person, welche Es hat.«
Im Raum war keine Reaktion, keine Bewegung, kein Laut zu vernehmen. Der Mann ihr gegenübersaß schloss die Augen und fragte leise:
»Tatsächlich? Bestätigt? Sind wir es diesmal sicher, Frau Groß? Haben wir die nötige Gewissheit?«
»Ja, Herr Bennstein, wir sind uns sicher. Sicherer können wir nicht sein. Es dürfte in dem Besitz dieser von uns identifizierter Person sein. Es ist bestätigt, wie erwartet, ein Mann aus dem Raster. Wir haben seine Biographie fast lückenlos nachvollzogen. Jetzt haben wir ihn. Ich würde es nicht sagen, wenn es nicht so wäre. Wir haben alles überprüft. Wir … er ist es. Er muss es sein und haben.«
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