» Ich spüre ihn auch. Ich könnte ihn aus Lehm formen, aber nicht beschreiben, so wie den Tod nicht. Er ist vor den Augen Aller, und doch wird er übersehen, so wie der Tod. Ich dringe zu ihm nicht durch. Er wird beschützt. Jemand wacht über ihn. Bestimmt hat ihn der Ruf auch erreicht, aber, … er reagierte nicht. « Inehaa wollte noch mehr hinzufügen, lies es sein, es wäre nutzlos.
»Das hast du gut gesagt, beschrieben. So fühle ich es auch.« Azala schaute Inehaa an, sie blickte zu den Sternen, strahlte im Mondlicht.
Man schaute ins Wasser, Feuer, verzehrte Nauacatl, Huachuma, Tarasuun, oder Honda, rauchte, trank Noha Wein oder Alkohol. Inehaa brauchte nichts. Sie stand graziös auf und senkte langsam den Kopf, bis das Kinn fast ihre Brust berührte, fing an im singenden Ton Verse zu rezitieren:
» Was wird mir denn gesagt, was werde ich jetzt erkennen? Die Zeit wird kommen. I hr werdet es sehen.«
Azala kannte diese Verse. Sanskrit, Veda, Rishi, Saptarishi. Inehaa war weg, weit weg! Sie brauchte nur die Sterne für eine Sekunde zu sehen, um die Zeit zu lesen. Diesmal stimmte etwas nicht, es ging zu schnell!
»… geschaffen aus Zwei, dem Feuer und Blut, wird der Eine erwachen, die Feinde vernichten. Das Leben der Zwei, wird die Götter stimmen, s ie werden zu ihren Ehren, in diese Welt zurückkehren …«
Auch diese Worte waren Azala bestens bekannt, die Verse aus dem geheimen Brief des Nostradamus an die Letzten.
»Es war, es ist, es wird immer sein, was man verliert, kann man nicht wiederfinden, w enn es nicht wiedergefunden werden will, a uch die Seele nicht, v ielleicht im nächsten Leben, wenn das Versprechen eingehalten wird. Denn … das haben wir uns versprochen …«
Azala musste nachdenken, das waren die Wu Worte. Inehaas Stimme veränderte sich, war nicht mehr die ihre, klang männlich, melancholisch, traurig:
»Lebe, als ob es der letzte Tag deines Lebens wäre, sorge vor, als ob du Tausend wirst, bedenke alles, was du getan hast, oder tust, weil du Tausend wirst!«
Azala schaute erstaunt zu Inehaa, diese geheimen Worte! Die hatte sie noch nie gehört oder gelesen! Sie konnte sie unmöglich kennen. Den Spruch hatte er einst gehört, man sagte ihm, er käme vom Pri. Das war sein Schwur Spruch!
»Ich habe in Ehre gehandelt, V ersprochenes gehalten, hatte keine Wahl, das Blut vergossen, Dank dafür ist die Qual. Das Letzte hast du mir verschwiegen! E nttäuscht habe ich dich nicht, oder etwa doch? Das wirst du mir schon sagen, beim Treffen aller Ahnen. Die Zeit ist relativ …, nicht fassbar, eine Sekunde wird … Ewigkeit bestehen, die Ewigkeit wird … in Sekunde vergehen. Was ist schon ein Traum? Was? Träumt der Tod?«
Azala verinnerlichte die Verse, verstand, was gerade passiert: Jemand sprach durch Inehaa! Alles fügte sich zusammen.
» Vater, das waren seine Worte, er … hat den Ruf erwidert. Es hat begonnen. Die Toten sind erwacht! «
Der erneute grausame befreiende Aufschrei der Geister war für Azala und Inehaa unüberhörbar.
Er lief langsam und bedacht, atmete gleichmäßig tief ein- und aus durch die Nase und den leicht geöffneten Mund. Konzentriert schaute er vor sich hin, berechnete im Voraus jeden Schritt, wo er seine Füße setzen wird. Obwohl der Weg erst vor vier Jahren asphaltiert worden war, gab es überall Löcher, glitschigen Matsch und Erdklumpen. Die Gärtner waren extrem fleißig, beim Bearbeiten der Felder fuhren sie über den Weg und brachten auf diesen mit den Rädern ihrer Landmaschinen viele Steine und feuchte Erde. Ständige Flickerei des Asphalts kam gegen die Witterung nicht an, stellte Zoran fest, die Löcher waren noch größer als letztes Jahr. Das bremste ihn nicht, im Gegenteil. Die Anstrengung der Joggerfallen zu entgehen erhöhte seinen Ansporn um so mehr.
Die Felder um Zoran herum waren leer, Gärtner waren keine zu sehen, sogar die Vögel hielten sich versteckt. Es war Mitte September, nach Zorans Empfindlichkeit gemessen war es für die Jahreszeit recht kühl. Andere würden sagen, es war bereits recht warm. Die ganze Nacht hatte es geregnet, die Luft war feucht, roch nach Erde und Basilikum. Zoran atmete genüsslich die schweren und süßen Düfte der Natur ein. Das nächste Feld neben dem Weg war mit Schnittlauch bestellt, welcher einen Tag vorher geschnitten worden war. Die morgendliche Luft wurde durch die Ausdünstungen des Schnittlauchs schärfer. Das Schnittlauchfeld schien in Zorans Augen nie zu enden. Er mochte den Geruch vom Schnittlauch nicht, atmete nun nur durch den Mund, um den beißenden Geruch nicht mehr wahrnehmen zu müssen. Zoran befand sich in den Kräuterfeldern von Oberrad, bekannt für seine grüne Soße und deren sieben Kräuter. Oder, besser gesagt, das war es einmal. Zoran schmunzelte leicht, die Gärtner behaupteten noch immer felsenfest, alles käme von hier, alle sieben benötigten Kräuter für ihre bekannte Grüne Soße. Zoran wusste es besser. Es war ein offenes Geheimnis, dass die meisten Kräuter heute aus Marokko und Rumänien angekarrt und hier nur zusammengebündelt wurden. Bis auf Schnittlauch und Basilikum kam alles von irgendwo anders, nur nicht aus Oberrad.
Der Himmel war noch leicht bewölkt, es wurde nur schleppend heller, was Zoran nicht im Geringsten störte. In der Ferne sah er den ersten Radfahrer an diesem Morgen. Mancher fuhr morgens, als Abkürzung nach Frankfurt oder Offenbach, mit dem Fahrrad durch die Felder. Die ganze Nacht hat es geregnet, andere Radfahrer werden diese Feldwege wegen des Matschs meiden. Es dürfte jetzt kurz vor sechs Uhr sein, stellte Zoran fest. Das ist der Italiener, identifizierte er die Gestalt. Der Italiener arbeitete in der Kleinmarkthalle, Zoran hat ihn da öfters gesehen. Kurz dachte er über die Arbeit des Italieners in der Kleinmarkthalle nach. Schwere Arbeit, den ganzen Tag auf den Beinen, Kisten hin-, und her schleppen. Zoran nickte mit Respekt dem Mann zu, obwohl ihn dieser nicht einmal hätte wahrnehmen können, er war viel zu weit weg und fuhr schnell auf seinem Fahrrad. Unweit von Zoran, vielleicht nur sechs Meter entfernt, flog wie immer in rasendem Tempo ein ICE vorbei. Der Luftzug erfasste ihn seitlich, er genoss es, was ihm deutlich anzusehen war. Zoran joggte langsamer, ließ sich von der Windböe des Zuges leiten, gleiten lassen. So fühlt sich ein Vogel, ging ihm durch den Kopf. Oberräder Felder waren etwas Besonderes, mitten in der Stadt, näher am Stadtzentrum als manche anderen Stadtviertel, welche sogar zum Stadtzentrum gehörten. Aber, Oberrad war doch das pure Land.
Plötzlich blieb er stehen. In der Ferne sah er einen Jogger auf demselben Weg auf sich zukommen. Der Jogger war noch weit entfernt, mindestens einhundert Meter. Zoran blickte sich kurz um, auf dem Weg hinter ihm war niemand. Misstrauisch musterte er den Störenfried, schaute sich im Hintergrund des Joggers die Skyline von Frankfurt an. Die heiligen Türme der neuen Macht ragten über den Baumkronen. Alles war noch verschwommen, der Morgendunst verhinderte den klaren Blick auf das Machtzentrum und seine Symbole. Die Gestalt kam aus den Tiefen der Morgendämmerung wie ein Geist auf ihn zu, ein Gespenstbote aus dem Herzen der Weltherrscher. Nicht gut, dachte er, ein schlechtes Omen. Zoran lief nun etwas langsamer, konnte dem ihm entgegenkommenden Jogger nicht mehr ausweichen, hatte ihn leider viel zu spät bemerkt, war zu sehr in seine Gedanken vertieft und vom morgendlichen Duft betäubt. Zoran überlegte, ob er nicht zurücklaufen sollte, einen kleinen Umweg macht, oder sich der Gestallt nun doch stellt. Schließlich entschied er sich weiter zu laufen. Jogger gab es immer, stellte Zoran verbittert fest, sogar um diese Uhrzeit. Wenn es ginge, mied er sie, er mied alle: Jogger, Radfahrer, Spaziergänger, ob bekannte oder unbekannte. Zoran lief weiter. Der Jogger war sehr auffällig angezogen, das merkte er sogar aus der Ferne. Seine Bekleidung war ganz neu. So läuft keiner hier, dachte Zoran. Jetzt betrachtete er den Mann, welcher auf ihn zukam, genauer. Dabei schaute er ihn nicht direkt an, sondern mit einem weiten Blick, nahm alles um den Jogger herum wahr. Er war groß, kräftig gebaut, sein Laufrhythmus war schnell. Ein Profi, das passte nicht in die Gegend, stellte Zoran besorgt fest. Hier waren alle nur Hobbyläufer, Hausfrauen, Rentner. Dieser Mann passt nicht hierher, sein Haarschnitt war kurz, typische Erscheinung eines Soldaten, wie aus dem Kino.
Читать дальше