Als Moureu sie anfasste, erlitt Lin einen Stromschlag. Beim Wort Glücksdrache wurde Lin schwarz vor den Augen, sie taumelte und stolperte zwischen den Sesseln, stieß sich dabei an einer Lehne den Kopf an, knallte auf den Boden. Durch den gestiegenen Blutdruck platzten ihr die Blutgefäße in der Nase, das Blut fing an zu fließen. Sie konnte sich nicht mehr bewegen, war wie gelähmt. Visionen aus ihrer Kindheit, die Geister die sie quälten, sie kamen alle gleichzeitig empor. In einer Sekunde und auf einen Schlag wurden alle Träume, seit sie denken konnte, zur Wirklichkeit. Einen besonderen Traum hatte sie oft gehabt, sogar gerade eben im Flugzeug, kurz bevor sie aufwachte. Lin verfiel selbst in Trance, ihr Körper vibrierte gleichmäßig, das Blut floss ihr kräftiger aus der Nase. Ihr Traum kam wieder!
Lin flog über die Erde, sah unter sich die Wiesen, ferne Berge. Ein schwaches Licht zog sie magisch an, sie flog auf das Licht zu und stellte erst jetzt fest, sie hatte Flügel. Sie flog weiter auf das Licht zu und sah, wie sich die Dunkelheit um das Licht ausbreitete. Sie spie Feuer, um die Dunkelheit zu vertreiben, nach oben, nach unten, links und rechts. Sie war ein Drache, das wusste sie genau, sie war ein Drache! Sie legte ihre Flügel um das Licht, um es vor der Dunkelheit zu schützen, schaute besorgt in das Erlöschende hinein. Dieses wurde plötzlich unbeschreiblich hell und glänzend, wie ein Spiegel, schimmerte blau- grau- grün. Lin schaute in die Augen der Ewigkeit, Augen aus ihren Träumen! Sie strahlten eine unvorstellbare Wärme aus, ein Gefühl der Geborgenheit, Sicherheit, und Sie baten um Hilfe. Das Bild in ihrem Kopf änderte sich, sie sah jetzt zwei Drachen nebeneinander fliegen, der eine war wie aus Gold, der andere rot, wie das frische Blut. Er war tatsächlich blutverschmiert, das Blut tropfte von ihm ab. Die Drachen flogen in die Höhe, majestätisch, frei, flogen in das große Licht hinein, wurden selbst zum Licht.
Es ist wahr, dachte Lin, es ist wahr! Alles ist wahr, ich bin ein Drache. Ich habe es schon immer gewusst. Ich muss ihn finden! Lin verlor das Bewusstsein. Das Blut aus der Nase hörte auf zu fließen, ihr Puls beruhigte sich, sie atmete tiefer und gleichmäßiger.
Das Flugzeug landete auf dem kleinen überwiegend von Geschäftsleuten und Privatfliegern benutztem Privatflughafen außerhalb von Frankfurt. Dem Frankfurter Flughafen war das Recht, denn kleine Flugzeuge brachten kaum Einnahmen, versperrten nur die Start- und Landebahnen und schmälerten die Zeitfenster. Die Passagiere der Privatmaschinen gaben nie ihr Geld an einem Flughafen aus, die Start- und Landegebühren reichten den Frankfurtern nicht aus.
Der Jet gehörte einer Organisation an, welche weltweit ihre Maschinen an Ihre Mitglieder verlieh. Die Mitglieder suchten sich eine entsprechende Flugklasse aus, bezahlten den entsprechenden Jahresbetrag, die Mitgliedschaft. Dann konnten sie jederzeit, egal wo sie sich auf der Welt befanden, eine Maschine nur für sich anfordern. Dieser Service war nicht billig, die Summe erreichte locker sechs Stellen im Jahr.
Manchmal mussten die Mitglieder viele Stunden auf eine Maschine warten, aber eigentlich lief alles problemlos ab. Es gab genug Mitgliedern, genug Maschinen und ausreichende Einnahmen um diesen Service zu gewährleisten. Wenn einer etwas mehr bezahlte, dann stand er auf der Prioritätsliste ganz oben, musste nie warten. Herr Gallmann stand auf dieser Liste, ganz oben.
Für die Kunden lag der Sinn der Mitgliedschaft woanders, sie konnten inkognito reisen, einen kleinen Propellerflieger, oder sogar einen Jet ordern, Jumbojets und neueste Airbus Modelle gehörten zur Flotte der Firma. Für die Kunden war es erheblich günstiger ein Mitglied zu sein und die Dienste der Firma in Anspruch zu nehmen, als eigenen Jet zu besitzen. Herr Gallmann hätte für den Beitrag der Mitgliedschaft den Jet nur einige Monate unterhalten können. Er hätte jedoch, wenn er es wollte, die ganze Flugzeugfabrik kaufen können. Eigentlich, gehörten ihm schon einige, jedoch mit eigenem Jet wollte er nicht auffallen. Nie auffallen, das war die überlieferte Weisheit. Früher zog er mit einem ganzen Heer an Leibwächter herum, einer Armee, und wurde trotzdem angegriffen, zuletzt vom … Seit Jahrzehnten hatte er immer nur einen Begleiter an seiner Seite und bewegte sich unerkannt, so wie "Die".
Mark kletterte die schmale Treppe des Learjets hinunter. Die Luft war stickig, heiß, unangenehm. Der BMW, welcher bereits direkt vor dem Flugzeug wartete, war das neueste Modell. Mark freute sich schon über die Fahrt, er mochte die Deutschen.
Das Fahrzeug mit den Beamten des Flughafens fuhr vor. Eigentlich mussten alle Passagiere, welche aus dem Ausland kamen, durch das Verwaltungsgebäude laufen. Ausnahmen gab es immer, dann kamen die Beamten zu den Passagieren. Mark reichte den Beamten die Papiere ein und schaute sich um. Hier war er schon mindestens zehn Mal. Frankfurt war gut, überschaubar, angenehm, nicht so überlaufen und gigantisch wie London. Die Beamten reichten Mark die Papiere zurück, verabschiedeten sich und fuhren weiter.
Herr Gallmann und Frau Groß stiegen aus dem Jet und liefen direkt zum BMW. Mark setze sich auf den Beifahrersitz. Er erkannte den Fahrer wieder, derselbe Bodyguard wie bei seinen früheren Aufenthalten in Frankfurt. Der Fahrer übergab Mark eine Waffe und den Firmenwaffenschein. Nun war Mark ein vorläufiger Angestellter der Sicherheitsfirma, dadurch berechtigt eine Waffe zu tragen.
Sergej saß an einem Baumstumpf und klopfte vorsichtig mit dem Hammer auf den Propeller des Bootsmotors. Als er nach seiner Bootsfahrt ans Land wollte, erwischte er einen dicken Ast, der Propeller wurde verbogen. Er sah den kleinen Unfall als belanglos an, nichts Neues für ihn. Das passierte ihm mindestens einmal die Woche. Sergej stieg in sein kleines Boot ein und montierte den Propeller an die hochgeklappte Motorachse. Er war mit seiner Arbeit fertig, richtete sich auf und sah sich den Fluss Ob an. Rechts von ihm war Surgut, eine neue Stadt inmitten von Westsibirien. Der Tag war sehr gut verlaufen, er hatte im Boot zwei volle Eimer silberner Fische sowie drei Enten unter der Plane. Sergej holte die Eimer mit den Fischen und stellte sie neben seinen Sachen ab, die Enten und das Gewehr verpackte er in die Plane.
Die Glocken fingen an zu läuten, Sergej drehte sich automatisch zum alten Kirchenturm von Surgut um, schaute auf seine Armbanduhr. Es ist später geworden, als er es wollte, Sevrjona wird sich Gedanken machen, wo er verbleibt. Die Glocken läuteten weiter. Ob es so weit sei, fragte sich Sergej. Er setzte sich wieder auf den Baumstumpf hin und schaute auf seine Uhr, dann wieder Richtung Kirchenturm. Nach einigen Sekunden waren die Glocken mit ihrem Geläut fertig. Sergej streifte die Gummistiefel aus, richtete die verzogenen Socken, zog die Gummistiefel wieder an und stand auf. In diesem Moment meldete sich mit leisem Summen und starkem Vibrieren sein Handy. Sergej zögerte. Das war das erste Mal, dass das Handy je geklingelt hatte. Diese Nummer hat noch nie jemand angerufen, nicht einmal aus Versehen. Sergej holte das Gerät aus seiner Brusttasche, klappte es auf und sagte klar und deutlich:
»Ich bin da.«
Der Wind wurde stärker, die Wachsplane, in welcher die Enten und sein Gewehr eingepackt waren, fing an lautstark zu flattern. Sergej machte die Augen zu um sich besser konzentrieren zu können. Der Anrufer sprach den vereinbarten Code Satz aus, worauf Sergej prompt antwortete:
»Ich bin derjenige, der seine Pflicht tun wird.« Sergej öffnete die Augen und hörte sich an, was der Anrufer zu sagen hatte, nahm stillschweigend seine Einweisungen entgegen.
»Ich werde da sein, ich brauche etwa anderthalb Stunden.« Sergej klappte das Handy zu und steckte es in die Brusttasche.
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