Carlo wurde es nunmehr, da sie beinahe eine Dreiviertelstunde marschiert waren, sogar ein wenig langweilig. Er benetzte seine Lippen und fing an, in schiefen Tönen eine von ihm völlig falsch erinnerte Melodie zu pfeifen.
„Nicht pfeifen!“ fuhr Adam ihn an, aus unbestimmten schweren Gedanken aufschreckend.
„Warum das denn nicht?“
„Das stört sie... stört vielleicht die Tiere auf.“
„Jetzt mach aber mal halblang. Hier pfeift und zwitschert es aus jedem Baum und Strauch, das werden die armen Tierseelchen wohl noch verkraften, wenn ich ein wenig mittue.“
„Ja, ja, schon gut, hab mich nur irgendwie erschrocken.“
„Kein Thema, ich bin ja bei dir. So ein fröhliches Liedchen ist doch die perfekte Untermalung für einen strammen Marsch durch die freie Natur, was meinst du.“ Und wieder pfiff Carlo los, tüü-tüü-tüt-tüt-tüüü, schief und falsch und ohne jeden Rhythmus. Eine Melodie wäre in dieser losen Folge schnorchelnder und raspelnder Geräusche auch bei äußerst wohlwollender Betrachtung nicht auszumachen gewesen.
„Ach, Carlo“ seufzte Adam.
„Okay, schon gut. Hast du vielleicht eine bessere Idee, wie wir uns die Zeit auf unserer Marschiererei ein bisschen vertreiben können? Irgendeine Hammergeschichte mit monstermäßiger Pointe“
Von Monstern hätte Adam gut anfangen können. „Weiß nicht. Irgendwie ist mir nicht so nach Quatschen zumute“, sagte er stattdessen nur. „Was meinst du, sollen wir nicht doch lieber umkehren?“
„Nix da, jetzt wird nicht mehr geschwächelt, wo bleibt denn dein Sportsgeist?“
Da Carlo ja wohl kaum ernsthaft eine Antwort auf so eine Frage erwartete, schwieg Adam weiter, bereit, sich in neuen Gedankensträngen zu verlieren. Aber Carlo hatte zu großen Gefallen an der Vorstellung einer munteren Plauderei beim Wandern gefunden, als dass er ein weiterhin stummes Dahinstapfen geduldet hätte.
„Hör mal“, fing er wieder an, „da fällt mir gerade ein, so von wegen unbekannte Wesen und so...“
„Wieso unbekannte Wesen?“ unterbrach Adam ihn sofort.
„Ja, weil du doch meintest, da könnten durch mein Gepfeife irgendwelche Viecher aufgestört werden. Ich meine, hey, ich hab hier noch kein Exemplar irgendwelcher Tiere gesehen. Das sind für uns doch alles echt unbekannte Wesen, die hier im Wald so gehalten werden.“
„Ach so.“
„Ja, also von wegen unbekannte Wesen, da fällt mir gerade eine Story ein, die ich dir echt mal erzählen muss. Du erinnerst dich doch noch an Tamitzo?“
„Tamitzo? Nein, sollte ich?“
„Hey, so lange ist das ja noch nicht her, dass du deine Perle klar gemacht hast, du erinnerst dich doch noch an den Nachmittag damals am Fluss? Ja? Na, da war doch dieser eine Bekannte von mir dabei, dieser Junge aus der Vallinigra. Klingelt’s da bei dir? Nein? Immer noch nicht? Der Kichermann, so hat ihn doch diese freche Göre gemeint, die mit deiner Perle am Fluss gesessen hatte, und dann zu uns rübergekommen war.“
„Ach so, ja der. Das ist ja vielleicht ein Penner.“
„Na, na, na, so weit würde ich ja jetzt nicht gleich gehen“, begann Carlo. „Der Junge ist echt superschlau. Du weißt, wie ungern ich es zugebe, wenn jemand wirklich schlauer ist als ich, aber bei Tamitzo ist das halt mal so. Er hat nicht nur ein Gedächtnis wie eine Festplatte, sondern kapiert auch sofort alle möglichen Zusammenhänge. Das ist vielleicht auch schon sein Problem. Zu schlau, um mit Menschen klarzukommen. Das muss für ihn im Umgang mit uns anderen so sein wie eine Partie Magno-Squash, bei der man einfach viel zu schnell ist für den Gegner und man sich schließlich fragt, ob man nicht selber alles falsch macht, bloß weil man das Rumgestolpere des anderen einfach nicht kapiert. Egal, also Tamitzo ist eigentlich echt ein superschlaues Köpfchen. Aber trotzdem oder gerade deshalb ist er auch echt seltsam in seinen Ansichten. Das hat auch nichts damit zu tun, dass er aus der Vallinigra ist. So weit ist das nämlich gar nicht her mit den berühmten kulturellen Unterschieden zwischen den Kuppeln. Ich war ja jetzt auch schon ein paar Mal drüben, und irgendwie glaube ich, dass dieses Gequatsche von den kulturellen Gräben eher so eine Art Werbeslogan ist. In jeder Kuppel wird behauptet, man sei so ganz anders als die Menschen in den anderen Kuppeln. Klar, wenn das so wäre, wäre man selber ja auch was Besonderes. Und wenn sich die Leute in der eigenen Kuppel wohl fühlen und es in der anderen Kuppel ganz anders sein soll, dann muss es da drüben ja wohl irgendwie schlimm und gar nicht schön zu leben sein. Aber ich kann dir sagen, also so viel habe ich schon mitbekommen: Die leben da in der Vallinigra eigentlich ganz genau so wie wir. Sie arbeiten in eigentlich genau denselben Berufen, das Essen schmeckt zwar ein bisschen anderes, besteht aber aus denselben Zutaten, und sogar die Freizeitvergnügungen sind dieselben, auch wenn sie etwas anders heißen.“
„Da gibt’s ’ne Squit-Liga in Vallinigra?” unterbrach Adam ihn endlich, bevor Carlo sich zu noch ausführlicheren Reflexionen über das Leben in Vallinigra ausließe.
„Nee, okay, also mit Squitten haben sie es da nicht so, es gibt nur ein paar Amateurclubs, aber dafür so eine andere Sportart mit Rumgleiten und Schlagstäben, hab vergessen, wie das heißt. Aber ich wollte ja eigentlich auch was anderes erzählen.“ Wenigstens gab Carlo zu, sich vergaloppiert und den Faden verloren zu haben.
„Der Kichermann“, half ihm Adam mit einem Stichwort.
„Ja genau, Tamitzo: Also, es kann dir passieren, dass du dich ganz vernünftig mit ihm unterhältst, und wenn man nicht wüsste, dass er nicht aus der Paneupinia ist, würde es einem wirklich nicht auffallen. Aber dann bringt er auf einmal so ganz komische Dinger. Dieses Rumgekichere wie damals am Fluss zum Beispiel. Und dann auch mal gerne total abgefahrene Geschichten. Und davon ist mir jetzt gerade eingefallen, pass auf: Neulich war ich mit ihm abends unterwegs, er ist ja auf zwei Jahre hier bei uns als Austauschstudent, und ich kümmere mich immer mal wieder um ihn. Wir also los in die Innenstadt, eigentlich hatte ich ja in diese neue Lounge bei der Zentraluni gehen wollen. Aber Tamitzo hat rumgequengelt, das wären ihm zu viele Leute da, und zu wenig Luft zum Atmen und so’n Scheiß. Okay, denke ich mir, hilf dem armen Jungen, geh mit ihm irgendwo hin, wo schön wenig los ist und die Musik nicht so laut, und dann soll er sich einfach mal auskotzen. Dann sind wir in so ’ner totalen Spießerkneipe gelandet, mit so fiesen Mädels als Bedienungen mit hochtoupierten Haaren und billigen Miniröcken, da ist natürlich auch dann tote Hose, wenn’s im Rest der Stadt brummt. Wir haben uns da in ein stilles Eckchen gehockt, Tamitzo hat an seiner Biotonic genuckelt und ich mir erst mal ein großes Reisbier mit Schuss bestellt, so nach dem Motto liebe betäubt als tot gequatscht. Ey, und dann hat der Typ losgelegt, ich hab mich fast verschluckt, kann ich dir sagen. Am Anfang war das noch halbwegs harmlos, da ging es um irgendeine Verschwörungsgeschichte von wegen überwachte Computernetze, und dass irgendwelche Typen von der Secufoce oder anderen Sicherheitskonzernen uns in den Kopf gucken, um unsere geheimsten Geheimnisse auszuspionieren und dann an Kaufhauskonzerne weiterzugeben, verstehst du, damit wir zu gläsernen Kunden werden und die uns alles andrehen können, was wir eigentlich gar nicht brauchen, aber psychologisch total ausgefuchst auf unsere unterbewussten Wünsche passt. Scheiße, denke ich mir, der Typ hat ja echt ’ne Vollmeise. Aber dann ging es erst richtig los. Auf einmal fängt Tamitzo nämlich zu kichern an, echt genau so wie damals, nur klang es irgendwie ängstlicher, er kichert also vor sich hin und murmelt zwischendurch ein paar Mal so was wie ‚die Vögel, die Vögel.‘ Was denn für Vögel, frage ich ihn ganz geduldig als wäre ich sein Psychodoc, und er fängt allen Ernstes und absolut klapsmühlenreif an davon zu erzählen, dass die Vögel in die Kuppel hinein wollen, und dass wir sie auf gar keinen Fall hereinlassen dürfen, weil sie uns sonst umbringen würden. Riesenhafte Vögel seien das, und sie fressen kleine Menschenkinder wie Amseln im Park Regenwürmer picken. Ich schau mich so um, ob da nicht gleich einer mit der Zwangsjacke hinter uns steht, und will mir auch nichts vergeben, falls uns wer zuhört, dann will ich ja nicht, dass der glaubt, ich wäre auch so einer von der Sorte. Also frage ich noch mal ganz geduldig, was für Vögel genau das denn sein sollen, und woher er denn von denen wissen will. Tamitzo schaut mich mit großen runden Augen an und antwortet mit fester Überzeugung, nicht zu schnell und nicht zu zögerlich, dass die Vögel uns auf der Außenseite der Kuppel auflauern und beobachten, und er sei einer der wenigen Menschen die sie von innen nach außen sehend erkennen könnten. Und deshalb würden sie ihn als Allerersten töten, wenn sie einmal in die Kuppel eingedrungen wären. Da hatte ich echt Mitleid mit dem armen Spinner. Wie er sich so in die Sache reinredete, bekam er es selber immer mehr mit der Angst zu tun. Musst du dir mal vorstellen, ein großer Junge, der sich selber Schauermärchen erzählt, und dann selber am meisten Angst vor dem hat, was er sich da zusammenspinnt. Eigentlich ist das ja wirklich einfach zu köstlich, aber du hättest ihn sehen müssen. Der hatte richtig Schiss, richtig, richtig die Hose voll. Da war mir ehrlich nicht danach, ihn auszulachen. Aber wenn ich jetzt so darüber nachdenken, ich meine: Große Vögel, die uns von außerhalb der Kuppel beobachten und uns auflauern, um reinzukommen und uns zu töten, das ist doch mal super abgedreht, oder?“
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