Einfach hineinspazieren – Adam war nicht so unbedarft, dass ihm nicht ohne weiteres die Konsequenz klar gewesen wäre: Ohne Auto mitten im Wald waren sie völlig schutzlos. Klar, wenn sich so eine Gruppe von einem guten Dutzend Schrate auf den Wagen stürzte, sähe es auch alles andere als gut aus. Aber dann gäbe es wenigstens eine kleine Chance, doch noch Gas zu geben und irgendwie davon zu kommen, mit etwas Glück. Aber ohne das Auto? Durch nichts gehindert könnten die Schrate dann ihre körperliche Überlegenheit nach Belieben ausspielen. Adam war bereit, es trotzdem zu riskieren. Und Carlo? Carlo würde schon irgendwie klarkommen, er war der Mutigere.
„Wie wäre es denn, wenn wir noch eine kleine Runde auf dem Laufsimulator machen, dann losfahren und unterwegs für eine Wanderung anhalten, mit der wir das Training dann ganz gemächlich ausklingen lassen?“ fragte Adam möglichst harmlos.
„Nochmal auf den Laufsimulator?“ maulte Carlo. „Wir waren doch heute schon vor dem Frühstück mindestens eine Stunde lang drauf.“
„Es war nicht ganz eine Dreiviertelstunde. Wer wollte denn ‚die müden Knochen in Schwung bringen‘, wenn ich mal zitieren darf? Aber na gut, wenn du das nicht mehr packst, können wir das weglassen und machen dafür die Wanderung ein bisschen länger.“
„Wie kommst du überhaupt auf die Idee mit der Wanderung?“
„Wie meinst du?“ Adam ging mit seiner Gegenfrage innerlich in Deckung. Hatte Carlo doch irgendeinen Verdacht geschöpft?
„Na ja, das ist ja echt wie auf ’nem Schülerausflug. Ist das hier denn überhaupt eine Wandergegend?“
„Ach, wir fragen einfach Madam Piyol und dann wird sich bestimmt was Gutes finden lassen.“
„Meinst du?“
„Klar, die hat sicher eine gute Idee.“
Sie hatte. Sie schlug zunächst ein paar Rundwege vom Hotel aus vor, und als Adam unauffällig auf den Wald in Richtung der Stadt zu sprechen kam, erklärte sie ihnen, dass sie dort eine kleine, von der Hauptstraße abzweigende und im Verkehrssystem bestimmt nicht einprogrammierte Waldstraße nehmen und an deren Ende den Wagen stehen lassen könnten. Zwei Waldwege würden von dort aus abgehen, die aber die zwei Enden eines Rundweges seien, den sie auch als ungeübte Wanderer leicht in zweieinhalb bis drei Stunden bewältigen würden.
„Hört sich doch gut an“ meinte Carlo. Adam pflichtete ihm ohne Anwandlung eines schlechten Gewissens bei.
Eine hohe Bewölkung war wieder aufgezogen, als sie an der ihnen beschriebenen Stelle aus dem Auto stiegen. Die Wolken verdichteten sich mehr und mehr zu einem bleiernen, niedrigen Himmel.
„Wenn es jetzt noch regnet, dann geht’s aber richtig los“ mutmaßte Carlo. „Und dann heißt es vielleicht ein gutes Stündchen oder mehr durch den Regen zurückmarschieren.“
Adam zögerte. Der Wald stand hier nicht so dicht wie im Laubtunnel, aber dicht genug, um keine fünfzig Meter weit zwischen die Bäumen hindurch sehen zu können. Es war womöglich doch einfach eine Riesenidiotie hier den Schraten entgegen spazieren zu wollen. „Sollen wir es lieber lassen?“ fragte er. „Nicht, dass wir noch pitschnass werden, so warm ist es hier draußen nun auch nicht.“
„Ach was,“ versetzte Carlo, „wir haben ja unsere Multifunktionsklamotten. Ist bei dir nicht auch so ’ne Kapuze dran? Ja? Siehste, dann kann ja gar nichts schief gehen.“ Unternehmungslustig rieb er sich die Hände. „Und auf geht’s. War wirklich eine tolle Idee, ich hab das schon seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht.“
Carlo marschierte los, ohne sich noch einmal umzublicken. Mit einem stillen Seufzer schloss Adam das Auto ab und ging ihm hinterher.
Gar nicht sanft war in dieser drückenden Wärme der Duft des Waldes. Der beständig wiederkehrende Regen der vergangenen Tage zusammen mit der schwülen Wärme, die vor dem immer nächsten Gewitter in Wellen über das Land lief, erweckten die Myriaden kleiner und großer Leben unter den Bäumen und darauf und daran zu wucherndem, pulsierendem Wachstum. Schleichend und lautlos, mit bloßem Auge nicht wahrnehmbar, breitete sich jeder noch so geringe Organismus aus, so weit und so schnell er konnte, und soweit es die um Luft, Licht und Wärme konkurrierenden Kohabitanten es eben zuließen. Der Stärkere überwucherte den Schwächeren, schnitt ihn von den Quellen seines Wachstums und Daseins ab und ernährte sich, hatte er den unterlegenen Wettbewerber besiegt, von seiner noch von letzten Zuckungen durchlaufenen Substanz. Die Stimmen dieser an unendlich vielen Fronten geschlagenen Schlacht, das triumphierende Kriegsgeschrei ebenso wie das Wehklagen der Sterbenden, alles das blieb stumm, war nicht dem Gehör zugänglich – wohl aber dem Geruch. Es waren Stimmen, die in Düften und Gerüchen und auch in so manchem Gestank durch die Luft des Waldes vibrierten und sie ebenso unablässig durchzogen wie die unvermittelt ihr Netz auswerfenden kühlen Schleier frischer und unverbrauchter Luft, kalte Schauer voll neuer Lebenskraft.
Unsere beiden Wanderfreunde nahmen die vom gnadenlosen Überlebenskampf kündenden Gerüche nur physisch wahr, ordneten sie, wenn sie in ihrem Geiste überhaupt ein Urteil darüber fällten, als Waldluft ab, exotisch, aber ohne jede Botschaft. Sie waren blind für alle Erscheinungen hinter der äußersten Schicht der Wahrnehmbarkeit. Adam, weil er mit einem Unbehagen, das aus dem hinteren Winkel seines Denkens summte wie eine unwuchtig laufende Maschine, die Begegnung mit den Schraten erwartete, sie halb herbei sehnte und halb fürchtete. Carlo hingegen durchwanderte den Wald mit der frohen Ignoranz des bewusst Unkundigen, neugierig auf alles, was er entdecken mochte, doch ohne jeden Ehrgeiz, es wirklich entdecken und verstehen zu wollen. Ihr Gespräch war schon eine Weile verstummt. Sie schritten den Weg entlang, der gut sichtbar, wenngleich zu schmal für ein Fahrzeug, durch den Wald führte. Große Farne deckten hier den Waldboden zwischen den in diesem Teil vereinzelter stehenden Bäumen. Dicht ineinander wachsendes Blattwerk war das. Hell schimmerndes Grün der vollen Blattwedel beleuchtete die Sicht von unten, so dass jeder abweichende Farbton, ein rötlich schimmernder Strauch, das tiefe Braun einer Borke, in unnatürlich starkem Kontrast sich scharf abzeichneten. Die Ränder des Weges waren von den Farnen eingefasst, die Blätter reichten hin und wieder bis in den Weg hinein. Mancher übersprießende Blattwedel überspannte den Weg gar. Der freie Pfad schlängelte sich durch das helle Grün hindurch. Die Blätter versperrten den Blick, so dass nur das jeweils nächste Dutzend Schritte vorhersehbar war.
„Wir gehen wohl rund um eine ziemlich große Senke herum“ hatte Adam bald nach dem Aufbruch vom Auto bemerkt.
„Aha?“ hatte Carlo sich erkundigt mit nur schwach vorgespieltem Interesse in der Stimme.
„Ja klar, schau doch mal, nach links fällt es recht steil ab, nach rechts ist es eben oder geht es sogar bergauf.“
Tatsächlich war der Weg bald nach der ersten Biegung und noch ein ganzes Stück vor den weiten Farnfeldern zur seitlichen Begrenzung dieses Bruchs im Geländelauf geworden: links vom Weg fiel das Gelände ab, nicht unbedingt als steile Böschung, aber doch in einem sehr gut sichtbaren Winkel. Rechts vom Weg ging es leicht aber ständig bergan. Wie weit hinauf, das verbarg sich hinter bald näher, bald entfernter vom Weg stehenden Nadelbaumreihen mit ihrem tief ansetzenden, beinahe bis zum Boden reichenden Geäst und den dicht stehenden dunkelgrünen Nadeln. Die Kurve, die der Weg rechts herum beschrieb, verlief in ihrer gemittelten Richtung zu sacht und war außerdem in zu unregelmäßigen Intervallen von Gegenkurven nach links durchbrochen, als dass Adam oder Carlo hätten erkennen können, wie sie im Uhrzeigersinn in einem großen Kreis liefen. Und deshalb merkten sie auch nicht, dass sie nicht an einer Senke zu ihrer Linken entlang liefen, sondern um die Kuppe eines Hügels, die rechts von ihnen lag. Genau dort, wo der Weg entlang führte, flachte die Steigung des Hügels abrupt ab und ging von einer sichtbar ansteigenden Flanke in eine linsensartig sanfte Abrundung über. An der Stelle, an der sie das Auto hatten stehen lassen, lief der Hügel zu einer Seite hin in einen Sattel aus, der in Richtung der Straße die Senke zwischen dem den Straßendamm bildenden Höhenzug und dem Ansatz des Hügels durchspannte. Der Rundweg war von diesem Punkt aus schlicht um den Hügel herum gelegt worden, wobei der Knick im Geländelauf, der zugleich einen Wechsel in der Vegetation bildet, die natürliche Spur durch den Wald bildete. Eine solche Geländeformation war Adam und Carlo ebenso unergründlich wie gleichgültig. Ihre Erfahrung mit unbekanntem Gelände beschränkte sich auf die Topographien der seit unvordenklichen Zeiten kultivierten und gestalteten Stadtlandschaften.
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