Es hatte Adam rasend gemacht, hilflos erleben zu müssen, wie Carlo die Idee eines gemeinsamen Wochenendes im Lupinental immer mit den markigsten Worten lobte, wenn Adam wieder und wieder die Sprache darauf brachte „da werden wir mal zeigen können, ob wir Pudding in den Muskeln haben, oder echte Kerle sind“, tönte Carlo, und: „ohne Weiber und ohne Saufen, fantastisch! Wir sind jetzt ja auch wirklich alt genug, um uns mal ernsthaft unserer Leidenschaft für den Sport zu widmen.“ Leidenschaft für den Sport, ach du große Güte! Carlos Ausbildung zum Ökonomischen Rat ging offenbar nicht spurlos an ihm vorüber, immer wieder verfiel er in den Ton werbender Anpreisung für vermeintlich neue Ideen. Und freilich immer, ohne den Worten entsprechende Taten folgen zu lassen.
Adam hatte sich gleich nach dem Nachmittag auf dem Squit-Feld bereit erklärt, das Hotel zu buchen und sich um alles zu kümmern, auch Carlos Anteil könne er ohne Probleme vorstrecken, und dann könnte man es ja gleich angehen. Da hatte Carlo gebremst und gezögert. So einfach könne er das nicht in seinem Studienplan nicht einrichten, der ja eben knüppelvoll sei. Und dann auch noch diese Forschungsarbeit, die käme ja oben drauf, und ohne ihn würde die nichts, Adam wisse ja „der Feinman muss das machen“, so sei das halt, wenn man sich engagiert. Adams stille Wut wuchs. Was bildete sich dieser Kerl nur ein? Wieso gelangte er so spielend zu der Annahme, sein Tun und Lassen sei der Nabel der Welt, und alles müsste sich darum drehen? Was wusste dieses aufgeblasene Knäblein schon? Da draußen im Wald waren Lebewesen, jede Menge von ihnen, die scherten sich einen Dreck um Carlos ach so heiligen Studienplan und seine dusselige Forschungsarbeit. Was war das denn überhaupt für ein Ziel, Ökonomischer Rat zu werden, wenn es doch galt, sich für das Zusammentreffen mit den Schraten zu rüsten? Das wollte er doch mal sehen, was von Carlos Großspurigkeit übrig bliebe, wenn er erst einmal einer Gruppe von Schraten gegenüberstand, ihren Krallen ausgeliefert und weit weg von seinen tollen Profs und Studienkollegen in der Stadt.
Aber schnell war diese Wut auch wieder verflogen. Adam hatte sich darauf besonnen, dass Carlo ja gar nicht ahnen konnte, warum es ihn so sehr drängte, endlich wieder hinauszufahren in die Wälder. Er selber war es schließlich, der Carlo etwas vorschwindelte. Wie konnte er sich dann erlauben, Carlos Unentschlossenheit und Großtuerei zu verurteilen? Mit dem Schwinden seiner Wut legte sich auch Adams Ungeduld. Sein Leben war schon vor der Begegnung mit den Lebewesen ein anderes geworden, ernsthafter und mit gewichtigeren Inhalten als je zuvor. Die freiwillige Dienstzeit im Regierungsamt erschien ihm nicht länger als bloßer Zeitvertreib, mit dem er nützlicher Weise zugleich alle bohrenden Fragen nach seinen Karriereplänen parieren konnte. Indem er echtes Interesse investierte, konnte er Bestätigung und Motivation aus seiner Tätigkeit ziehen. Sich mit Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung zu befassen war ihm nicht länger eine wichtigtuerische Beschäftigungstherapie für verhinderte Unternehmenslenker. Er begann, Zusammenhänge zu erfassen, die er künftig viel genauer und intensiver studieren wollte. Selbst ein Ökonomie-Studium konnte er sich plötzlich vorstellen. Sein Vater würde Luftsprünge machen, wenn Adam endlich das tat, was er schon immer von ihm erwartet hatte. Aber er würde es dann nicht deswegen und nicht für seinen Vater machen, sondern weil es ihm ein Anliegen wäre.
Und Stella. Viel wichtiger noch war, dass Stella jetzt in seinem Leben war. Das war nicht eine lose Liebelei um des Verliebtseins willen. Eine frühe Phase des verliebten Blicks, getrübt von namen- und ziellosen Gefühlswallungen hatten sie gar nicht durchlebt. Adam bedauerte das nicht, wohl eben so wenig wie Stella. Seine Empfindungen waren noch genau so wach wie damals, als das Aufeinandertreffen mit Sandra – Stella hatte er da einfach nicht recht wahrgenommen – sein Innerstes geweckt hatte. Aber die Empfindungen hatten sich gewandelt, waren von nebulöser Schwärmerei zu einer festen Spur erstarrt, der er folgen wollte, hin zu Stella, beide aufeinander zu schreitend. Sie hatten seit seiner Rückkehr aus den Wäldern an jedem Tag Zeit miteinander verbracht, eine ruhige, aneinander genießende Zeit. Jetzt gehörte Stella zu seinem Leben und er hoffte, dass er zu ihrem gehörte. Hätte sie diese Empfindung nicht erwidert, wäre sie innerlich bereit gewesen, jeden Augenblick aufzustehen und zu gehen, er hätte ihr keinen Vorwurf daraus gemacht. So lange sie da war, war sie Teil seines Lebens, eines neuen Lebens, das ihm kostbar war.
Was wollte er also da draußen im Wald von den Schraten eigentlich? Die lebten fröhlich, verborgen unter dem Dickicht der Bäume, vor sich hin. Oder seinethalben auch unfröhlich und elend, was ging ihn das an? Vielleicht machte es ihnen Freude, immer einmal wieder arglose Touristen zu erschrecken, na schön. Wenn sie tatsächlich für Menschen gefährlich wären, dann müsste eben jemand etwas dagegen unternehmen, der etwas von der Beseitigung von Gefahren verstand. Das war doch Sache des Hotelverbandes, wenn er seine Wege sicher halten wollte. Genauso, wie die Straßen durch die Wildnis in Schuss gehalten werden mussten, musste auch marodierendes Gesindel von den nichtsahnenden Besuchern ferngehalten werden. Zur Not mussten die Tourismus-Unternehmer halt Geld in die Hand nehmen und einen Sicherheitskonzern auf die Sache ansetzen. Marktführer Secuforce würde sich über einen dicken Auftrag bestimmt freuen.
Ja, es hatte Momente gegeben, in denen der Gedanke an die Schrate Adam aus einem kurzen, nur ganz kurzen Zustand der tiefen Zufriedenheit gerissen hatte, und dann war ein anderer Zorn in ihm erwacht, Zorn über diese Kreaturen. Die sollten ihn doch in Ruhe lassen. ‚Komm wieder, komm wieder‘, von wegen: Wenn er diese Wesen tatsächlich gesehen hatte, dann waren das bestimmt keine Gesten gewesen, die sie gemacht hatten. Unbeholfenes Rumgefuchtel mit den Armen, mehr konnte das nicht gewesen sein. Und damit hatte sich Adam auch schnell wieder besänftigen können: Sie würden ihn in Ruhe lassen, würden draußen in den Wäldern bleiben. Niemand hatte je davon gehört, dass solche Lebewesen in die Stadt eingedrungen waren. Die da draußen, Adam und Stella und alle friedliebenden Menschen da drinnen, basta! wer musste sich schon die Zeit auf dem Land um die Ohren schlagen?
So hatte ein kleines Glück an einer Zeit mit Stella in der Stadt scheinbar das Verlangen nahezu verdrängt, Klarheit über die Existenz der Schrate zu gewinnen. Doch dieses neugierige Verlangen schlummerte nur knapp unter der Oberfläche seines Fühlens und schon bald erwachte es wieder. Ihm war, ganz bewusst, die Lächerlichkeit seines Daseins klargeworden, aus der er nicht würde entrinnen könnte, wenn er sein Erlebnis draußen im Wald weiter vor sich und den anderen weiterhin leugnete. Was für eine alle Aspekte seines Lebens umfassende Lüge, wenn er weiterhin so täte, als gäbe es für ihn keinen Anlass, sich endlich Gewissheit über Dasein und Wesen der Wesen aus dem Wald zu verschaffen! Gab es für ihn einen guten Grund, an die Existenz dieser Schrate zu glauben, dann musste er sich auf die Suche nach ihnen machen. Und würde er sie wiedergefunden haben, dann durfte er das vor seinen Mitmenschen nicht geheim halten. Sie mussten doch erfahren, dass und warum sie nicht mehr so leben konnte, als gäbe es unter der Kuppel nur die Städte, während das Land drum herum als bloße Dekoration in grün und naturhaft diente.
Wie aber Carlo dazu überreden, jetzt endlich loszufahren? Wäre es nicht doch viel einfacher, ehrlich zu ihm zu sein und ihn einzuweihen?
Solcher neuerlicher Grübeleien war er zum Glück enthoben worden, als Carlo ihn unvermittelt mit einem Anruf überrascht hatte. „Na, du fauler Hund“, hatte Carlo lachend am Telefon gefragt, „du meinst wohl, ich hätte vergessen, dass bei uns ein Fitness-Folter-Camp fällig wird? Denkste, jetzt wird’s ernst für die müden Sesselfurzer-Knochen. Übermorgen kann es von mir aus losgehen, ich hab schon gebucht. Wir fahren doch mit deinem Auto, oder?“
Читать дальше