„Ich danke für eure Aufmerksamkeit.“, fährt er fort, als es ganz ruhig geworden ist. Einem verträumten Schwätzer half ein Rippenstoß, den Mund zu halten. „Wir werden in Bälde auf eine lange und weite Reise gehen. Wir werden Wege beschreiten, die niemand zuvor von uns gegangen ist. Selbst die Wenigen von uns, die den Wettergau noch zu kennen glauben, werden ihn nicht wieder erkennen. Wir betreten also für uns vollkommenes Neuland. Es ist daher angeraten, sich auf den großen Straßen zu halten. Doch nicht nur deswegen. Wir brauchen nur vor das Tor zu gehen, um zu sehen warum. Wir werden mit ungeahnten Schneemassen zu kämpfen haben. Und auch wenn unseren Wagen die Kufen untergeschnallt sind, werden die Zugochsen mit ihrem großen Gewicht im Schnee versinken. Wir werden also wohl weite Strecken für einen tragenden Untergrund sorgen müssen. Deswegen gilt folgende, gruppenunabhängige Reihenfolge im Zug. Zu Vorderst gehen die Zwerge in Reihen, die breit genug sind, dass für die Wagen ein Weg gebahnt wird. Danach folgen die Menschen in ebensolchen breiten Reihen. Jeder wird Schneeschuhe an den Füßen haben, um eine möglichst breite Fläche nieder zu treten. Die Reihen werden versetzt laufen, dass auch wirklich der ganze Schnee niedergepresst wird. Ich hoffe es reicht aus, auf diese Weise den Untergrund so fest zu stampfen, dass die Ochsen nicht mehr einsinken werden. Zudem wird die erste Reihe mit Stöcken ausgerüstet, die sie vor jedem zweiten oder dritten Schritt in den Boden rammen, wenn wir über offenes Gelände laufen müssen. Im Wald erkennt man den Weg. Wo kein Baum steht, muss der Weg verlaufen. Aber auf einer zugeschneiten Wiese sieht keiner, ob nicht kurz vor ihm ein Graben oder ein kleiner zugefrorener Bach überdeckt ist. Auf den Wagen befinden sich neben den Käfigen für das Kleinvieh auch alle nur erdenklichen Sachen, von denen wir glauben, dass sie benötigt werden könnten. Die führenden Reihen werden nach angemessener Zeit wechseln, sodass die Schwerstarbeit auf alle verteilt wird. Erst danach kommen die großen Ochsenwagen und am Ende die Halblinge. Die abgelöste Führungsreihe der Zwerge übernimmt dann nach den Halben den Abschluss und die Rückendeckung.“
Anschild macht eine kurze Pause, bevor er fortfährt. „Wir müssen damit rechnen, dass wir sehr weit laufen müssen. Eringus befürchtet sogar, dass wir bis ans Meer laufen müssen.“
„Was ist ein Meer?“, ruft es aus dem Hintergrund. Dafür gibt es wieder einmal einen Rempler mit dem Ellenbogen.
Anschild hat das gesehen. „Lasst den Mann, das habe ich auch fragen müssen. Wir alle haben schließlich noch nie eine so weite Reise unternommen und von einem Meer hat man vielleicht schon einmal in einer Geschichte gehört, wenn überhaupt. Stell dir vor, du stehst an einem Seeufer. Aber außer hinter dir, siehst du sonst kein Land. Dann stehst du vor einem Meer. Das ist eine so große Wasserfläche, dass man ihr Ende nicht sehen kann. Unser weitgereister Eringus kennt das, denn er war schon dort und hat sogar die Länder dahinter gesehen.“
„Dahinter soll es doch garnichts mehr geben, hab ich gehört.“, ruft wieder eine Stimme aus dem Hintergrund, durch die Offenheit und Ehrlichkeit des Großkönigs bestärkt.
„Es ist nicht gesagt, dass nicht zwischen hier und dem Ende der Welt auch noch Inseln zu finden sind.“, erklärt Anschild.
Eringus grinst innerlich und sagt nichts dazu. Er weiß es besser. Doch das hier und jetzt erklären zu wollen, hieße ein neues Weltbild schaffen. Das führt zu weit und niemand wird den Berg verlassen.
„Meinen ursprünglichen Plan, in kleinen Gruppen ungesehen die Heimreise zu bewältigen, habe ich aufgegeben. Nehme ich Buodingen als Maßstab, so mag es durchaus vorkommen, dass wir auf vielleicht noch größere Anwesen stoßen und dann stehen im besten Fall fünfzehn Zwerge und zwanzig Menschen urplötzlich einer Macht von an die zweihundert Gegnern gegenüber. Ich will, dass alle wohlbehalten und unversehrt nach Hause zu Weib und Kind kommen. Wir werden daher den gesamten Tross so lange als möglich zusammen behalten und am Ende mit maximal fünf großen Gruppen die Rückkehr beginnen. Die Obersten dieser Gruppen sind die Zwillinge Genefe und Jeras Eisengießer, Hrosvit Silberfaden, Dankwart, Gernhelm und ich.“
Die Genannten haben sich am Fuße des Podests versammelt und Anschild weist bei der Namensnennung auf den jeweiligen Zwerg oder die Zwergin.
„Auf diese Weise haben wir in jeder großen Gruppe fünfzig Zwerge und sechzig Menschen. Ich denke, damit sollte auch eine größere Übermacht besiegt werden können. Die nachgemeldeten Gruppen nicht mitgezählt.
Doch wir sind nicht auf Kampf aus. Wir wollen keine Ländereien erobern, wir wollen unseren Lieben daheim Nahrung bringen. Darum werden wir auf dem Rückweg so gut als möglich die Siedlungen vermeiden und davor die Straßen verlassen und erst danach wieder auf sie zurückkehren.
Auf uns warten entbehrungsreiche Wochen. Gerade zu Beginn unserer Wanderung werden wir nur wenig Gelegenheit haben, zu rasten. Bei dieser Kälte kann man sich nicht im Freien zur Ruhe betten. Es wäre der letzte Schlaf. Jeder bekommt ein kleines Päckchen mit Nahrungsmitteln. Teilt es mit Bedacht ein. Solange wir noch im ehemaligen Bereich der magischen Wolke sind, ist an Jagd nicht zu denken. Wild wird es nicht geben. Alles Andere, vielleicht essbare, ist vom Schnee überdeckt und tief gefroren. Ihr werdet an die Grenzen eurer Leistungsfähigkeit gelangen und darüber hinaus gehen müssen.
Sobald wir die vermutliche Grenze der Wolke erreicht haben, werden wir unser weiteres Vorgehen besprechen. Darüber jetzt nachzudenken, wäre voreilig. Wir wissen nicht, was uns erwartet und wo wir uns befinden werden. Am Ende kann man dort nicht einmal unsere Sprache sprechen. Dann werden wir höchstwahrscheinlich den Zug überhaupt nicht auflösen. Allein aus Sicherheitsgründen. Wir werden sehen.
Wohlan, Menschen, Halblinge und Zwerge, die ihr berufen seid, diesen Weg zu gehen, lasst uns nun draußen vor dem Haupttor sammeln. Ihr habt alles, was ihr für euch und die Reise braucht, bei euch.“
An dieser Stelle hält der Großkönig für alle deutlich inne. Jede begonnene Bewegung verharrt. Anscheinend lauscht Anschild ins Leere. Niemand kann die kleine Traumfee erkennen, die ihm etwas zu sagen hat.
„Wie ich eben erinnert werde, werden Jade, Amethyst und Bernstein uns begleiten. Sie sind der Meinung, sie könnten uns gute Botendienste leisten, wenn wir uns teilen. Dem kann ich nur zustimmen und meinen allerherzlichsten Dank aussprechen. Als dann: Auf zur Sammlung vor dem Tor.“
Mit einem Wink eröffnet Anschild Kleyberch den Auszug. Urplötzlich ist die Halle mit Gemurmel erfüllt. Es summt und brummt wie in einem Bienenstock. Bereitwillig geben die Zuschauer den Weg frei. In ungewöhnlich geordneter Weise streben die Teilnehmer dem Aufgang zu. Man lässt den Zwergen den Vortritt, die in völliger Disziplin voran marschieren. Sie folgen den Gruppenführern, die den Marsch eröffnen. Danach kommen die Menschen, deutlich ungeordneter, aber bemüht, es den Zwergen nach zu machen. Die Halblinge folgen als Letzte in totaler Unordnung und noch vergnüglich plappernd. Anschild lächelt, als dieser Haufen an ihm vorüber zieht. Bevor die übrigen Anwesenden, die sich dieses Spektakel nicht entgehen lassen wollen, hinterdrein gehen, verlässt er sein Podium und achtet darauf, dass nicht schon jetzt einer verloren geht.
Auf dem Weg nach oben überprüft jeder noch einmal, was er mit sich führt. Das Nahrungspaket für reichlich zehn Tage, bestehend aus einigen Streifen getrockneten Fleisches und einigen harten Keksen mit Käse oder altbackenes Honig-Früchtebrot, steckt in einem Sack, den alle Zwerge auf dem Rücken tragen. Bei den Menschen gibt es auch die Variante eines schlauchförmigen Sackes, der um den Leib getragen oder, mit nur einer Schnur gehalten, quer über dem Rücken hängt. Darin ist alles, was man zu benötigen meint. Jeder hat da so seine eigene Vorstellung. Allerdings sind die Säcke der Zwerge deutlich voller. Man könnte den Eindruck gewinnen, bei manchen Größen sei ein ganzer Hausstand drin. Der Trinkschlauch ist bei jedem Menschen eingepackt, allerdings leer. Bei dem Dauerfrost, der nicht einmal am Tag aufhören will, gefriert das Wasser und der Schlauch platzt am Ende. Doch für den Rückweg wird man ihn schon brauchen können. Die Zwerge allerdings tragen jeder zusätzlich zwei große und wohl gefüllte Schläuche. Diese sind aber derart verschlossen, dass ein Öffnen sofort auffällt. Es ist bei Strafe verboten, sie aufzumachen. Sie beinhalten leckeren Met mit Kräutern. Damit keiner davon nascht, tragen nur die Zwerge diese Schläuche. Nicht, dass man den Menschen misstrauen würde, doch der Großkönig will seine Befehlsgewalt nicht allzu sehr auf die Menschen ausdehnen. Zudem hält er sein Volk für disziplinierter.
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