Echt krank
Die Wintervorbereitungsstory klingt lustig. Was diese Familie (Name mir bekannt) dort treibt, ist allerdings gefährlich. Sie ruiniert ihre Gesundheit. Genauer gesagt: Sie riskiert schwerwiegende akute Schäden (Haut, Gelenke, Organe, Hirn), die ein Hausarzt kaum mehr behandeln kann. Auf zum Facharzt? Die Familie (Hunemann) ist Kassenpatient! Was das heißt, belegt folgende Meldung.
Warten bis kein Arzt kommt
(Berlin) Die durchschnittliche Wartezeit auf einen Termin beim Facharzt wird für Kassenpatienten immer länger. Damit einhergehend steigt offenbar deren Unzufriedenheit und Unruhe. Laut einer Umfrage der AOK wollen 11 Prozent der Kassenpatienten in der Zeit, in der sie auf einen Facharzttermin warten, ein Medizinstudium absolvieren und sich anschließend selbst behandeln. 24 Prozent sparen auf ein Hasenkostüm, um im Notfall problemlos zum Tierarzt zu kommen. Für 81 Prozent der deutschen Schülerinnen und Schüler sind Kassenpatienten ein absolutes Vorbild im Unterricht: »Erst in acht Wochen drankommen? Voll genial!«
Den Facharzt sehen und sterben
Der kerngesunde Schüler mag da noch scherzen, nicht so Alte und Todkranke. Für mich unvergessen bleibt das berührende Schicksal von Kassenpatient Wilfried W., dem die Barmer Ersatzkasse Pirmasens »einen lang gehegten Herzenswunsch erfüllte«. Der sterbende Mann wollte wenigstens einmal im Leben eine Facharztpraxis von innen sehen. Auf Initiative der Barmer wurde Wilfried W. schon am nächsten Tag einmal quer durch den Behandlungsraum des Onkologen Dr. Gutzke geführt. Ein Skandal? Nein, zwei. Denn in derselben Ausgabe der Barmer-Mitgliederzeitschrift, die da fast prahlerisch über Wilfried W. berichtete, stieß ich auf diese entlarvende Mitteilung.
The Barmer-Info for Young People
»Hi, Folks! Warten, bis der Blinddarm platzt? Ey, shit, nein, muss echt nicht sein! Wir stecken euch hier und jetzt jede Menge schwer abgefahrene Krankheiten, die sich auch nach 40 superlangen Tagen affenblöder Warterei auf den durchgeknallten Doc noch voll geil behandeln lassen. Wie zettbe Ohrenknallen, Sackreißen, Pickeljucken und so. Alles bingo? Okay dann, haut cool rein, lasst die Finger von Leukämie und holt euch nicht den Tripper, eure krasse Ersatzkasse!«
Als Gesundheitssachverständiger sehe ich die Zweiklassenmedizin längst zementiert, abgesegnet auch von Ersatzkassenseite. Als die deutsche Marine auf ihren Patrouillenfahrten zum Schutz von Handelsschiffen vor der somalischen Küste erstmals einen Piraten einfangen konnte, bat die AOK Duisburg um sofortige Auslieferung.
»Er wandert bei uns in einen Schaukasten. Unsere Mitglieder sollen sehen, dass gute medizinische Versorgung oft ganz schlicht und preiswert sein kann«, erklärte damals der örtliche Kassenleiter, der den Piraten samt Holzbein, Eisenhakenhand und Augenklappe dann auch fünf Wochen lang im Foyer der Duisburger AOK-Zentrale zeigte.
Ich erspare mir jeden Kommentar, weise aber daraufhin, dass es annähernd sinnlos ist, am Hirn zu erkranken oder einer irgendwie genetisch verkomplizierten Schistosomiasis. Sich als Kassenpatient auf die gute alte Rachenentzündung zu verlegen, dürfte dagegen goldrichtig sein. Mund auf – Aaaaaaaaaaaa – Rezept vom Hausarzt in Empfang nehmen, fertig. Wie ich überhaupt meine, zehn, zwanzig einfache Beschwerden wären genug. 30.000 Krankheiten kennen wir und nur eine Gesundheit. So kann das nicht weitergehen!
Können wir auf das Herz verzichten?
Nein. Als Monopolist auf den Gebieten Blutdruck und Liebesgedichte bleibt es unentbehrlich. Das Herz ist heute Ausrüster von gut sieben Milliarden Menschen sowie 923 Milliarden Säugetieren, Vögeln und Reptilien, ein Global player, kosmopolitisch, aber launisch, praktisch die Diva unseres Leibes. Beschied es sich früher mit einem schlichten Herzkasper, erfindet das tückische Organ nun immer neue, immer undurchsichtigere Kalamitäten: koronare Insuffizienz, Herzwandaneurysma, Aortenklappenstenose sowie Perikarditis und Herzruptur, alles nur zu dem Zweck, mit Bypässen, Stents, Ballondilatationen und brummenden Geräten umsorgt und verhätschelt zu werden. Pervers genug: Es liebt Apparatemedizin (ab 10 Knöpfen und 30 Leuchtdioden aufwärts). Dabei verschanzt es sich feige hinter Fleisch und Knochen. Viele finden, man sollte das Herz aus seinem Verhau hervorvorholen, ihm bei seiner Arbeit einmal genauer auf die Finger (gemeint: Klappen) schauen. Und nur Schlagen, das war einmal. Keiner hat mehr sein Leben lang nur einen Beruf. Auch das Herz wird schon morgen anderes erledigen müssen. Halbtags den Nierenjob machen etwa. Oder als Aushilfsleber Alkohol parieren.
Dieser kleine Herz-Text stand in der portugiesischen Apotheken-Umschau (Farmácia vista, Januar 2011). Portugal hat freilich im Gesundheitswesen mit noch größeren Schwierigkeiten zu kämpfen als wir. Als ich während einer Ferienreise aufgrund eines Schwächeanfalls eine Lissaboner Klinik aufsuchen musste, wurde ich in einen mehr als seltsamen Vorfall verwickelt. Im Bereich der Notaufaufnahme erhob sich plötzlich ein gewaltiger Lärm, eine Mischung aus Schreien und Topfschlagen, etwa zehn Sekunden lang, dann herrschte eisige Stille. Ein Arzt stürmte den Raum, in dem ich auf einer Trage lag, und stammelte »Streik, Streik! Schon wieder wilder Streik!« Dabei rang er die Hände und ließ ein paar Flugblätter fallen. Eines davon schnappte ich mir und las verblüfft, was in der Klinik vor sich ging. Mehr als 100 Krankheiten hatten ihre Symptome niedergelegt. Lungenentzündung, Darmverschluss, Fracksausen und andere Malaisen protestierten damit gegen zunehmend schlechter werdende Arbeitsbedingungen. »Seit Jahren sind wir unentgeltlich im Einsatz und sehen uns dabei immer wirksameren Medikamenten und Heilungsmethoden gegenüber« stand auf dem Flugblatt, darunter die Forderungen: 30 Prozent mehr überlastete Ärzte und eine sofortige Verdopplung der Behandlungsfehler. – So etwas könnte uns auch noch blühen.
Die Gesundheit wird uns hier weiterhin beschäftigen, beschäftigen müssen!
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