Ich machte weiterhin große Augen.
„Das klingt alles äußerst schauerlich. Ganz nach einem russischen Märchen. Ist das vielleicht ein Geist, der auf Rache sinnt?“
„Man weiß nie.“ Er zuckte mit den Schultern.
„Was ist mit den anderen drei gefangenen Bewachern geschehen?“, hakte ich nach. Sie waren ja nicht in der Zelle gewesen.
„Sie waren ohne Wert. Man hat sie erschossen.“
Oh, die Gerechtigkeit schritt voran. Ich rechnete auch sie meinem Rachefeldzug zu. Tot war tot.
„Wir sollten Jekaterinburg verlassen!“, stellte ich energisch heraus. „Wann fahren wir?“
„In zwei Tagen.“
Die Reise begann am Bahnhof. Zusammen warteten wir dort.
Zu Tarpens Kommando gehörten fünf weitere tschechische Offiziere und zwanzig Soldaten als Bedienstete. Bei einem Ausfall der Telefone und Telegrafen würde man sie als Boten entsenden. In dieser Kriegszeit funktionierte die Technik nicht zuverlässig.
Auf uns wartete ein reservierter Zug. Die Heizer schmissen bereits eifrig Kohlen in den Kessel. Dampf stieg von dem Ungetüm in den blauen Frühlingshimmel empor. Für unsere Gruppe war ein richtiger Reisewaggon vorgesehen. Der Rest des Zuges bestand aus Güterwaggons. Sie waren mit jungen russischen Soldaten gefüllt, die sich Koltschaks Armee angeschlossen hatten und mich frech durch die offenen Türen musterten. Einige machten in russischer Manier obszöne Bemerkungen oder pfiffen mir nach.
Überall auf dem Weg lagen Unmengen von Schalen ausgekauter Sonnenblumenkerne. Die russischen Soldaten vertilgten solche Mengen von dem Zeug, dass es ihre Zähne regelrecht abschliff. Es war das Konfekt des einfachen Mannes.
Unter den tschechischen Offizieren erkannte ich auch jenen, der mich damals im Wald vor dem Tod gerettet hatte. Die Plünderer hatten mich dort mehrfach vergewaltigt und er hatte mich im letzten Moment befreit. Meine Peiniger hatten mich nach der Schändung verbrennen wollen.
Ich hatte ihn auch schon einmal in Jekaterinburg gesehen, war ihm jedoch aus dem Weg gegangen. Bei seinem Anblick fuhr mir der Schreck durch alle Glieder. Würde er mich erkennen und verraten? Ich wurde ganz bleich und mein Hals trocken.
Die kleine Offiziersgruppe stand umringt von ihren Soldaten auf dem schäbigen Gleis und rauchte Zigaretten. Als Tarpen von Radewitz auf mich wies, nahmen sie eine aufrechte Haltung an. Der mich begleitende Gefreite stieß mir den Weg frei.
Tarpen stellte mir die Männer einzeln vor.
„Das ist Leutnant von Radewitz, ein Cousin und alter Freund von mir“, verkündete er stolz. Dabei zeigte er auf den Mann, der mir im Wald zu Hilfe geeilt war. „Nachdem er sich in vielen Kämpfen bewehrt hat, wurde er jetzt dem Stab zugeteilt.“
Der Leutnant knallte wie die anderen die Hacken zusammen und gab mir dezent wie seine vier Vorgänger einen Handkuss. „Es freut mich, Sie kennenzulernen“, fügte er hinzu, als würde er mich das erste Mal im Leben begrüßen. Nichts im Gesicht des Offiziers aus dem Koptyaki-Wald verriet, dass er sich an mich erinnerte. Ich atmete innerlich auf. In der Dame von heute erkannte er nicht das nackte gefesselte Mädchen von damals. Das Glück war auf meiner Seite.
„Komm mal mit!“ Tarpen ging zu einem Waggon, in dem Pferde untergebracht waren. Ich folgte ihm.
Er wies auf meinen abgemagerten schwarzbraunen Wallach, der durch die geöffnete Tür heraussah.
„Ich hab Karuschka für dich mitgenommen!“
Das Tier sah noch immer etwas kränklich und schwach aus. Die Legion hatte es deswegen freigegeben. Er hatte Angst in der ungewohnten Umgebung und ahnte nichts Gutes. Als ich ihn streicheln wollte, versuchte Karuschka aufwiehernd in den Schutz des Inneren zurück zu den anderen Tieren zu gelangen. Da kaum Platz war, gelang es ihm nicht gleich. Für einen Moment berührte meine eisige Hand sein warmes Fell. Karuschka zitterte förmlich und sah mich mit aufgerissenen Augen an.
„Das ist aber ein sehr scheues Tier!“, staunte der Oberst. „Ob das je vergeht?“
„Vorsicht kann in diesen Zeiten nicht schaden. Daran kommt man seltener zu Schaden als durch Leichtsinn!“, scherzte ich gutgelaunt. Ich freute mich und beschloss, alles zu tun, um Karuschka zu zähmen. Früher war ich sehr gern geritten und hatte selbst ein Kosakenkommando als Warentochter angeführt. Das war Tradition. Ein wenig meines Blutes würde ihn schnell gesunden lassen.
Unsere Reise dauerte drei Tage. Unterwegs wurde unser Zug immer wieder aufgehalten. Teilweise hatten Partisanen die Gleise zerstört oder es gab Kämpfe, die die Weiterfahrt behinderten. Am ersten März 1919 erreichten wir Omsk. Die Stadt war die gegenwärtige Residenz von Admiral Koltschak. Bei unserer Ankunft tauchten erste Sonnenstahlen, welche den nahenden Frühling ankündigten, die Umgebung in zartes Licht. Bisher hatten monatelang dunkle Wolken den Himmel bestimmt. Das erschien uns als ein gutes Omen, aber bereitete meinen Augen trotz Sonnenbrille erhebliche Schmerzen. In dieser Stadt befand sich die wichtigste Garnison des Ostens, sie glich einer großen Kaserne. Das Straßenbild bestimmten Offiziere und Soldaten, die eifrig irgendwohin marschierten. Ich reckte die Nase in die Luft, suchte spielerisch schnüffelnd schon einmal unter all den „ehrbaren Männern“ ein paar Exemplare, deren Saft ich getrost trinken konnte.
Währenddessen vermittelte mir mein Freund ein wenig Ortskunde.
Im November 1918 war in Omsk das „Direktorium“ gestürzt worden. So nannte man die damalige, aus Sozialrevolutionären bestehende sibirische Regierung. Daraufhin hatten die Putschisten Koltschak zum Ministerpräsidenten und Regenten Russlands gewählt. Alle setzten große Hoffnungen in seine einigende Kraft.
Vielleicht waren das zu große Hoffnungen. Aus meiner Sicht konnte keiner besser regieren als mein toter Vater, der Zar, der wahre Herrscher Russlands. Sogar dieser war an der unermesslichen Aufgabe gescheitert. Konnte der Admiral das wirklich leisten? Große Zweifel blieben in mir.
Admiral Koltschak hatte ich bisher nie persönlich getroffen, allerdings müsste er ein Mann im besten Alter sein. Im Krieg hatte er als blutjunger Offizier bei der Marine gedient und viele Heldentaten im Kampf gegen die Deutschen vollbracht. Deswegen hatte ihn mein Vater, als er kaum dreißig Jahre alt gewesen war, zum Leiter der russischen Pazifikflotte ernannt. Im Oktober 1917 hatten die Bolschewiken seine Mannschaft zur Meuterei bewegt und dabei fast alle Offiziere lebendig ins eisige Meer geworfen. Als einem der wenigen war es Koltschak gelungen, ans Ufer zu schwimmen.
Noch konnte ich ihn nicht einschätzen, doch wenn mein Vater ihn befördert hatte, würde er so untauglich nicht sein. Womöglich erwies er sich als nützlich für mein Vorhaben.
Ein Kontrollposten hielt uns auf. Das Banner mit dem Wappen von Koltschaks neuer Regierung wehte stolz über dem Eingang. Es trug wie das alte russische Wappen zwei Adlerköpfe. Über diesen prangte ein orthodoxes Kreuz. Auf der einen Seite trug der Adler einen Reichsapfel, auf der anderen ein Schwert.
Die Soldaten, die unsere Pässe kontrollierten, sahen wie Kinder in Uniformen aus. Sie rochen unschuldig und hatten noch nie Blut vergossen. Sicher hatten sie bis vor Kurzem die Schulbank gedrückt. Einzig der Offizier wirkte älter. Sie alle waren in aufgekratzter Stimmung, als wäre der Sieg eine beschlossene Sache und das Vorhaben mehr ein Manöver als eine Schlacht.
Vermutlich hatte der Admiral die jüngeren Jahrgänge eingezogen, weil er durch die Meuterei den alten misstraute. Diese waren oft stark mit dem Gedankengut der Bolschewiken infiltriert.
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