„Du hast mich reingelegt!“, murmelte er erschrocken. Er ahnte, dass dies kein gutes Ende nahm.
Obwohl er ausgiebig protestierte, erhängte ich ihn mit einem Strick. Das war sein Lohn. Der Feind liebt den Verrat aber nicht die Verräter. Ein Zustand von Mattigkeit, wie nach einem Bankett, erfüllte mich.
Der kräftige Aufseher keuchte recht lange um sein sinnloses Leben. Das eine verbliebene Auge quoll dabei heraus. Ich vermachte diesen diesen häßlichen Anblick nicht zu genießen, weshalb ich mich abwandte.
Nach seinem Tod löste ich die Fesseln und stellte einen Stuhl neben ihn, damit es wirkte, als hätte er diesen für einen Selbstmord benutzt. Das viele Geld nahm ich wieder mit.
Nachdem ich die Zelle verlassen hatte, steckte ich den Schlüssel von außen in das Schloss, ließ die Tür aber geöffnet und machte mich davon. Man würde denken, der Wärter hätte Medwedew getötet und sich anschließend aus unerfindlichen Gründen erhängt. Verrücktes wirkt oft am glaubhaftesten. Keiner würde jemals verstehen, was hier wirklich geschehen war. Meine Rache schritt voran. Wer war als Nächstes an der Reihe?
Erst einige Tage später traf ich meinen Freund wieder. Unentwegt und bis in die tiefe Nacht hinein gab es nicht enden wollende Stabsbesprechungen in der Tschechischen Legion. Diese nahmen meinen Beschützer vollkommen in Beschlag. Die Ereignisse überschlugen sich über den Winter. Die weißgardistischen Kräfte bereiteten offenbar eine geheime Aktion vor. Wir sahen uns immer weniger …
Bei seinem nächsten Besuch umarmte Tarpen mich dermaßen innig, als würde etwas Besonderes auf uns warten. Ich spürte es, diese Geste bereitete einen langen Abschied vor. Ein kurzer, schmerzhafter Stich fuhr in mein Herz.
„Was ist los mit dir?“, fragte ich in der Hoffnung, dass ich mich vielleicht täuschte. Sein Gehabe machte mir Angst. Ich hatte instinktiv Furcht, ihn zu verlieren. Inzwischen bedeutete er mir anscheinend mehr, als ich mir eingestehen wollte.
„Ich reise als Verbindungsoffizier zum Admiral Koltschak. Wir müssen wichtige Entscheidungen treffen.“
„Wer sagt das?“, fragte ich brüsk. Zu gern würde ich ihn ans Bett fesseln, damit er blieb.
„Unser General hat mich mit dieser Aufgabe beauftragt.“
Ich mahlte mit den Zähnen. General Radola Gajda war der charismatische Kommandeur der Tschechischen Legion. Diese hatte im Juli 1918 Jekaterinburg befreit, um meine Familie zu retten. Doch dieser Heldentrupp war zwei Tage zu spät gekommen. Da hatte man meine Familie bereits hingemetzelt.
Das Zuspätkommen hatte mich zu dem gemacht, was ich jetzt war. Die Rache lag nun in meiner Hand und forderte, dass jedes menschliche Gefühl hinten an stand.
„Der Admiral wurde in Omsk zum neuen Regenten von Russland gewählt“, dozierte mein Geliebter. „Die Entente hat ihn bereits diplomatisch anerkannt.“
„Aha“, sagte ich nach Außen gelangweilt. „Und welche Großtaten können wir von ihm erwarten?“
Niemand sollte mir Tarpen nehmen. Er war alles, was ich hatte.
„Er will die roten Banditen mit einem Angriff überraschen, den Bolschewismus zerstören und einen Rechtsstaat wie in Amerika errichten.“
Verblüfft weitete ich die Augen. War das machbar? Schwand die Macht der Bolschewiken so schnell? Bestimmt kam ich durch einen solchen Sieg leichter an die Mörder meiner Familie heran und konnte mein geheimes Vorhaben vollenden. Doch Zweifel blieben.
„Ist das nicht zu gewagt?“, hakte ich nach.
„Meine liebe Olga, du unterschätzt uns.“ Er lächelte verschmitzt und etwas stolz. „Admiral Koltschak hat eine komplett neue Armee aufgestellt. Die Roten richten ihre Blicke zu sehr nach Westen, sie sehen nicht, was im Osten geschieht.“
„Also ein überraschender Einfall von hinten?“
„Genau das ist der Plan. Lenin träumt von der Weltrevolution, schaut nur nach Deutschland. Sie rechnen nicht mit einem Angriff von der anderen Seite. Halten uns für zu schwach dafür. Der Admiral will die Gunst der Stunde nutzen.“
„Ich begleite dich!“, erklärte ich bestimmt.
„Das würdest du wirklich tun?“ Tarpens Augen sahen mich ungläubig an, dann füllten sie sich feucht mit Tränen der Rührung. Er drückte mich ganz fest, beinahe so, als hätte er unermessliche Kraft.
„Ich dachte schon, ich würde dich für immer verlieren“, hauchte er. „Dabei liebe ich dich mehr als alles andere auf der Welt.“
Sein Geständnis bewegte mich. Deshalb schenkte ich ihm ebenfalls einige wahre Worte.
„Du bist mein einziger und wahrer Freund“, sagte ich. Liebevoll strich ich seinen starken Arm entlang, der im Militärmantel steckte. „Ich stehe tief in deiner Schuld!“
„Ist es nur das?“ Seine Augen suchten nach einer bedeutenderen Antwort. Er wollte mehr hören, ich wollte ihn jedoch nicht anlügen. Dazu stand er mir zu nahe und ich war mir selbst nicht genau über mein Inneres klar. Konnte ich überhaupt noch menschliche Gefühle entwickeln und lieben?
„Von allen Menschen auf dieser Welt, bedeutest du mir am meisten. Alle Gefühle, zu denen ich in der Lage bin, gehören dir!“ Ich versuchte ihm meine Empfindungen so gut wie möglich zu gestehen. Wiederum sollte er nicht denken, es wäre echte Liebe. Dazu war ich nicht fähig, nach all dem, was man mir angetan hatte.
Für einen Moment überlegte er. Meine kunstvoll gesetzten Worte deutete er jedoch als ein Geständnis des größten Gefühls, zu denen Menschen in der Lage sind. Erfreut näherten sich seine Lippen den meinen. Seine warmen Küsse bedeckten mein Gesicht. Ich ließ ihn gewähren, so gut ich es vermochte. Bloß nicht an seine Halsschlagader denken …
„Du bist so kalt, Teuerste!“
„Das ist nur der Blutdruck!“, lenkte ich ab. Es wurde Zeit, mich wieder zu wärmen. Wir Wesen der Finsternis kühlen aus, wenn wir nicht genug Lebenssaft bekommen.
„Das alte Leiden!“, erwiderte ich.
Er ließ besorgt von mir ab.
„Dann erhole dich erst einmal.“
Ich ließ mich auf einen Sessel nieder.
„Übrigens, Medwedew ist tot.“
Ich tat vollkommen erstaunt.
„Wie das? Hat er wenigstens genug verraten?“
„Sein Tod gibt viele Rätsel auf. Eigentlich darf ich dir das nicht erzählen. Offiziell ist er an Typhus gestorben. In Wirklichkeit hat ihn sein Wärter ermordet und sich danach selbst in der Zelle erhängt. Seltsam war auch, dass Medwedew kein Blut mehr hatte. Sein Körper war davon absolut leer.“
„Das Blut fehlte?“ Ich ließ meinen Mund erstaunt offen stehen. Innerlich lachte ich aber. Mein Plan war aufgegangen. Sie stocherten im Sand herum und verstanden gar nichts.
Tarpen öffnete seinen Mantel etwas. Anscheinend wurde es ihm zu warm.
„Keiner kann sich das erklären“, fügte er hinzu. „Wir haben in Jekaterinburg schon oft Tote ohne Blut gefunden. Entweder haben die eine merkwürdige Seuche oder jemand saugt es ihnen aus.“
Ich lachte.
„Meinst du wirklich?“
„Die abergläubischen Russen erzählen so etwas. Wir Tschechen lachen darüber, es passieren aber viele mysteriöse Dinge. Wir suchen schon lange nach den Bolschewiken, die nachts unsere Männer umbringen. Zwei Zeugen berichteten, sie hätten mal eine vornehme Frau in deren Nähe gesehen. Auch der tote Wärter wurde einmal mit einer jungen Frau erwischt. Vielleicht besteht da sogar ein Zusammenhang.“
Ich nickte bedeutungsvoll. Man kam mir langsam auf die Spur, ich musste noch vorsichtiger sein. Es war gut, diese Stadt zu verlassen. Obwohl sie meiner Familie Unglück gebracht hatte, war sie für mich zu einem letzten Stück Heimat geworden. Was hatte ich sonst?
„Merkwürdig ist ebenso, dass die anderen Wachen nichts mitbekommen haben. Der Staatsanwalt will das genau untersuchen. Medwedew war sein wichtigster Zeuge.“
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