Jedenfalls hatte die Mutter des Zaren, meine Oma, die weißgardistische Regierung und den Staatsanwalt um eine genaue Fallanalyse gebeten. Sie hatte der Verwaltung mitgeteilt, dass sie für jegliche Unkosten der Untersuchung persönlich aufkommen würde. Noch immer hoffte sie, ihren Sohn und uns lebendig wiederzusehen. Zurzeit lebte sie auf der sicheren Krim, außerhalb des Einflusses der Roten, die auch ihr nach dem Leben trachteten und das gesamte Geschlecht der Romanows auslöschen wollten.
Einige Tage später spazierten Tarpen und ich einen Feldweg am Rand der Stadt entlang. Der Schnee reichte sehr hoch, unsere Stiefel versanken bis zum Schaftende darin. Ein Stück des Weges waren wir geritten, jetzt wanderten wir zu Fuß weiter. Der Atem der Pferde dampfte. Die Tiere scheuten noch immer etwas vor mir. Nach wie vor hoffte ich auf eine Ausnahmeerlaubnis für den Gefängnisbesuch.
„Hat Medwedew noch etwas verraten?“, erkundigte ich mich. Der Oberst schaute zurück, um sicher zu sein, dass uns niemand hörte.
Die zwei Attachés standen bei den Pferden und rauchten. Sie genossen die Pause vom Dienst.
„Wenn du mich fragst, verspottet er uns“, antwortete mein Gefährte nach einer Weile. „Man kann ihm nicht glauben.“
Der Schnee knirschte unter unseren Schritten, doch die Sonne schien. Es war ein schöner Wintertag. Nicht einmal Schüsse hörte man. Das schuf die Illusion von Frieden.
„Wieso?“, fragte ich nach. „Weshalb traut ihr ihm nicht?“
„Weil sich der Kerl ohne Grund gestellt hat. Er hat uns eine abenteuerliche Geschichte aufgetischt.“ Tarpen schüttelte den Kopf, um zu verdeutlichen, wie ihn das erstaunte.
Ein toter Vogel lag mit offenem Schnabel am Wegesrand. Er war erfroren und erinnerte an die Endlichkeit des Lebens.
„Welche?“, bohrte ich nach und hakte mich bei ihm vertraut ein.
Tarpen lachte auf. „Dieser Wicht foppt uns. Angeblich ist er vor der lebendigen Zarentochter Olga geflohen, die ihn auf offener Straße angegriffen hat. Er hat sich ergeben, damit diese ihn nicht umbringt. Aber sage mir, welcher Soldat hat Angst vor einem Mädchen? Stellt man sich deswegen seinen Feinden, wo einen der sichere Tod erwartet?“
Mit seinem Fuß warf mein Begleiter etwas Schnee über das verendete Tier. Er glaubte wohl, dass es die bezaubernde Landschaft verschandelte. Dann griff seine Hand nach der meinen. Ich ließ es zu. Die warmen, vergossenen Tränen für meine Familie hatten gezeigt, dass noch Menschlichkeit in mir lag. Und die Augenblicke, die ich schluchzend in seinen Armen verbracht hatte, waren Ausdruck dafür gewesen, wie innig ich für ihn empfand. Er bedeutete mir mehr als andere Menschen. Diese Gefühle hatten nichts mit Liebe zu tun, aber sie stellten eine Form von Zuneigung dar.
„Das klingt verrückt“, stimmte ich leise zu. Wie wunderbar war es in seiner Nähe. Ich fühlte mich geschützt und ein wenig wie zu Hause. Das war einfach nur seltsam.
„Für seine Lügen hat der Chefvernehmer Belozerkowski ihn Dutzende Male geschlagen“, fuhr Tarpen fort. „Er wollte ihn von diesem Schwindel abbringen und erfahren, warum er sich wirklich gestellt hat.“
„Und?“, fragte ich scheinbar interessiert, denn die Wahrheit war längst auf dem Tisch.
„Trotz grausamster Folter erzählt er ständig das Gleiche. Mit Marter können wir ihm nicht beikommen. Der Kerl führt uns an der Nase herum, wo jeder andere längst alles gestanden hätte. Nur wenige Menschen sind so stark.“
„Also wendet man jetzt noch härtere Methoden an?“, mutmaßte ich hoffnungsvoll. Solange ich nicht mitmachen konnte, sollte der Kerl wenigstens durch die Hände anderer leiden. Die Wahrheit wurde Medwedew zum Verhängnis. Je mehr er sie erzählte, um so weniger glaubte man ihm. Das war schon irgendwie komisch und eine besondere Rache.
Mein Informant schüttelte den Kopf. „Staatsanwalt Sokolow meint, dass solche Quälereien nichts bringen. Deshalb hat er jede weitere Folter verboten.“
Ich kochte innerlich. Nun bekam der Kerl im Knast auch noch eine Luxusbehandlung!
„Sokolow ist ein aufrichtiger Mann und treuer Monarchist“, schloss Tarpen das Thema ab. „Er gibt sich alle Mühe, den Fall aufzuklären. Dazu will er international verwertbare Beweise sichern, doch Geständnisse unter Folter haben nur eine bedingte Aussagekraft.“
„Dann soll er mal mit seinen Kuschelmethoden weitermachen“, gab ich mürrisch zurück.
Eine Zeit lang schwiegen wir, dann sagte mein Begleiter plötzlich: „Möchtest du heute mitkommen?“
„Wohin?“, fragte ich mit neuer Hoffnung. Konnte ich doch ins Gefängnis und dem Mörder nahekommen?
„Der Staatsanwalt hat mich zum Abendessen eingeladen. Ich habe darum gebeten, jemanden mitbringen zu dürfen.“
Er sah mich liebevoll an.
„Mir geht es nicht gut“, wich ich dem unausgesprochenen Wunsch aus. „Das Sonnenlicht schmerzt mich heute besonders stark.“
Da Sokolow nun der Aufklärer war, wollte ich jeden direkten Kontakt mit ihm vermeiden. Durch seinen Auftrag kannte er sicher viele Bilder von meiner Familie. Wenn er meine Ähnlichkeit mit Olga entdeckte, würde ihn das misstrauisch machen. Niemand sollte Verdacht schöpfen und mich mit der Zarenfamilie in Verbindung bringen. Das war mein Geheimnis, welches mir gleichzeitig als Schutzmantel diente. Sonst würde man mich erneut verfolgen, nach meinem Leben trachten.
„Warum willst du nicht doch mitkommen? Ruh dich einfach noch ein wenig aus!“, hakte mein Begleiter enttäuscht nach.
„Du hast doch immer so großes Interesse an dem Zarenmord. Es gibt keine bessere Quelle als Sokolow persönlich. Bei ihm laufen alle Informationen zusammen.“
„Mein Interesse gilt mehr den Mördern“, parierte ich und nahm mir vor, noch vorsichtiger zu sein.
„Was ist dein Geheimnis? Ich würde es sehr gerne erfahren.“ Mein tschechischer Freund musterte mein Gesicht in allen Facetten.
„Dann wäre es kein Geheimnis mehr“, gab ich seiner Frage eine scherzhafte Wendung, so bitter diese in meinen Ohren auch klang. Ich zog meinen Arm aus dem seinen.
Wir gingen zu den Pferden zurück. Als sie mich rochen, machten sie furchtsame Augen. Tarpen hatte mir eines der Tiere geschenkt, da es für den Dienst zu schwach war und vermutlich eine unerkannte Krankheit in sich trug. Für eine Frau ohne Gepäck war es allerdings stark genug. Ich hatte das Tier spöttisch Karuschka getauft. So hieß einst das sprechende Pferd von Ilja Muromez, meinem früheren Lieblingshelden.
„Warum haben die Tiere Angst vor dir?“, staunte Tarpen. „Du bist eine gute Reiterin und sie kennen dich inzwischen.“
Ich zuckte mit den Schultern und schwang mich in Karuschkas Sattel. Einer der Gefreiten hielt das Tier zur Sicherheit an den Zügeln fest.
„Wahrscheinlich haftet an meiner Haut der Geruch von Blut. Vor einigen Zeit starb unter mir ein Pferd im Kugelhagel der Roten.“
„Ja, das könnte eine Erklärung sein. Diese Tiere sind sehr sensibel“, stimmte er zu.
Unsere kleine Abteilung ritt nach Jekaterinburg zurück. Dabei brütete ich vor mich hin. Tarpen von Radewitz konnte mir also nicht helfen. Ich musste mir anders Zugang zu Medwedew verschaffen.
Da mein Freund es nicht vermocht hatte, mir einen Weg zum verhassten Medwedew zu bahnen, tüftelte ich an einem neuen Plan. Allerdings war mein Todeskandidat für die Weißgardisten und Tschechen zu einem wertvollen Pfand geworden, sodass man ihn inzwischen besser beschützte als damals die Leibgarde meine Familie.
Unterdessen verbreiteten die barbarischen Bolschewiken sich widersprechende Lügen, dass der Zar noch lebte oder zwar hingerichtet worden sei, aber man die Kinder verschont hatte und, und , und …
Ich hasste ihren Anführer Lenin. Für mich war er ein selbstherrlicher Schlächter, der um der eigenen Macht willen täglich immer längere Exekutionslisten unterschrieb. Er wollte all seine Gegner töten und schreckte dabei nicht einmal vor alten Kampfgefährten der eigenen Seite zurück. Bis vor wenigen Monaten hatten die Bolschewiken noch die Unfreiheit im Zarenreich kritisiert. Doch jetzt errichteten sie eine Diktatur, die ausschließlich ihre Meinung zuließ. Sie nannte sie höhnisch sogar selbst die Diktatur des Proletariats. Waren Attentäter und Terroristen im Zarenreich meist nur verbannt worden, ermordeten die Bolschewiken ihre Gegner gnadenlos und ohne Gerichtsverfahren. Von allen Monstern war Lenin also das Größte. Das linke Gedankengut war gefährlicher als jeder Religionsfanatismus. Im Vergleich zu ihm stand ich in dieser Rangordnung ziemlich weit unten. Was wogen schon einige Dutzend Tote gegen Hunderttausende? Auch unter der Haut seiner Gefolgsleute verbargen sich letztlich nur weitere Bestien. Sie waren die Wölfe im Schafspelz und zu jeder Untat bereit.
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