Das erschütternde Bild, wie er meine geliebte Mama und dann meinen Papa, den Zaren von Russland, erschoss, hatte sich in meine Träume gebrannt. Meinem verletzten, wimmernden Bruder schoss die Bestie zweimal hintereinander ins Ohr. Er hatte keine Gnade gewährt. Ihm sollte das Gleiche widerfahren. Nein, er würde von mir auch keine Gnade erhalten. Zuletzt waren da noch Swerdlow und Beloborodow. Diese Befehlsgeber sollten genauso ihre gerechte Strafe erhalten. Keiner durfte meiner Rache entgehen. Das war ich meiner Familie schuldig. Welcher Sinn sollte sonst hinter meinem Überleben stecken?
„Sie erinnern mich an irgendjemanden“, sagte der Admiral nachsinnend, während er mich betrachtete.
Zum Glück machte sein Attaché deutlich, dass es Zeit war, den nächsten Tisch zu besuchen. Das Staatsoberhaupt stand mit entschuldigendem Schulterzucken auf.
„Die Pflicht ruft!“
Die Offiziere erhoben sich zum Abschied. Auch ich erwies ihm diese Ehre.
So verging eine weitere Stunde. Uns erwartete köstliches Essen, einfach alles, was der Mund begehrte: Stör, Filet, Kaviar, Pelmeni verschiedenster Art, französische Küchlein und vieles mehr. Die Tschechen lobten diesen Festschmaus begeistert. Im Kriegsalltag deckten sie den Tisch anders.
Nachdem der neu ernannte Herrscher Russlands seine Runde beendet hatte, kehrte er zu seiner Geliebten an den Tisch zurück, die dort tapfer und wortkarg ausgeharrt hatte.
Würde er sich von seiner Gemahlin scheiden lassen? Wusste diese überhaupt von dessen Liaison?
Admiral Koltschak hob nun sein Champagnerglas in Richtung der Gäste.
„Lassen Sie uns diesen friedlichen Abend mit einem Kelch Champagner beenden! Es wurde genug geredet. Die Zeit der Waffen ist gekommen. Ich hoffe, dies wird das letzte Gefecht vor einem dauerhaften Frieden sein. Unser Volk muss sich aussöhnen. Vorher aber werden wir die roten Verbrecher bestrafen, wie es das Gesetz verlangt. Wir wollen keine Rache, einzig Gerechtigkeit. Morgen breche ich mit der gesamten Armee auf und beziehe das Feldlager.“
Er machte eine lange Pause, als fielen ihm die folgenden Worte sehr schwer oder er wollte ihnen eine ganz besondere Bedeutung verleihen:
„Feuer und Stahl über die Feinde Russlands! In drei Tagen überschreiten wir den Rubico! Das nächste Mal feiern wir in Moskau!“, schrie er fast. Ja, er war nun unsere Hoffnung. Wir vertrauten ihn in diesem Moment und ließen uns von seiner Begeisterung mitreißen.
„Auf Admiral Koltschak, auf Russland!“, schrien die Gäste feierlich und standen applaudierend von ihren Plätzen auf.
Einige wenige riefen: „Auf den Zaren!“
Begeistert stimmten einige Gäste die ehemalige russische Nationalhymne an. Dann stimmten ergriffen alle ein. Das war nicht vorgesehen. Koltschak sang notgedrungen mit. Er wollte die nationalistische Stimmung nicht trüben und möglichst viele in seinen Krieg einbeziehen.
In meinen Augen standen kühle Tränen, es war ein bewegender Moment. Liebevoll drückte Tarpen meine Hand, während wir alle in hoffnungsvoller Stimmung schwelgten. Die Männer träumten von einem Sieg, ich von Blutrache.
Die plötzliche Offensive überraschte unsere Feinde tatsächlich. Leider wurde Tarpen dem Stab von General Khanzin zugeordnet, weshalb wir uns für einige Zeit trennen mussten. Erst nach Ende der Kampfhandlungen durften die Frauen und anderen Angehörigen der Truppen folgen.
Koltschaks westliche Armee unter General Khanzin stieß blitzartig auf den Ort Ufa vor. Der Schlagkraft der neuen Truppe und ihrer guten Bewaffnung waren die Rotgardisten nicht gewachsen. Vor allem kam der Angriff für sie unerwartet.
Das zweite Heer, das sibirische, hatte Koltschak komplett dem tschechischen General Radola Gajda unterstellt. Dieses gelangte von Perm aus dreihundert Kilometer in das bolschewikische Gebiet.
Am 28. April fiel dann Ufa. Damit verloren die Roten den wichtigen Zugang zum Ural, denn die einzige Eisenbahnlinie wurde durchtrennt. Während der Kämpfe büßte die 5. Rote Armee zwei Drittel ihrer Mannschaft ein.
Koltschaks dritter Flügel, die Südarmee unter Below, wagte sich ebenfalls sehr weit ins Feindesland hinein.
Am erfolgreichsten von allen taktierte allerdings Generalmajor Pepeljajew, der unter General Khanzin diente. Sein Korps stieß am weitesten nach Westen vor, bis tief in den Ural. Nach langer Zeit betraten unsere Truppen erstmals wieder europäischen Boden. Ein kompletter Sieg erschien möglich. Ich weinte vor Glück, als ich diese Nachricht erfuhr. Gab es doch noch Gerechtigkeit? Bald konnte ich zu Tarpen reisen, da die Lage in den eroberten Gebieten stabil erschien. Drei Wochen waren mit ängstlichem Warten und Hoffen vergangen. An seinen Tod mochte ich nicht denken. Er würde es schaffen, Punkt!
Seine Abwesenheit verdeutlichte mir umso schmerzlicher, wie viel Platz er doch in meinem Herzen einnahm. Von Liebe wollte ich dennoch nicht sprechen, dazu war ein Monster wie ich doch nicht in der Lage. Die Gefühle für ihn waren offensichtlich nur ein Überbleibsel meines menschlichen Selbst, das sich auf ihn fokussierte.
Die Wartezeit vertrieb ich mir mit der Pflege von Karuschka und auch speziellen Jagdausflügen. Ein einheimischer Tierarzt, der als Pferdeflüsterer galt, und ein paar Tropfen meines Blutes heilten ihn offenbar von seinem Leiden. Das Tier blühte auf und zog schon bald neugierige Blicke auf sich. Bald strotzte er vor Kraft und Jugendlichkeit nur so. Andere Reiter bewunderten ihn und boten mir viel Geld für seinen Verkauf an. Besonders große Augen machten die tschechischen Offiziere, denn ursprünglich war es das schwächste ihrer Reitpferde gewesen.
Es gab immer ausreichend menschliche Jagdbeute in der Umgebung für mich. Die Stadt und die umliegenden Wälder waren voll damit. Meinen Karabiner, den ich am Sattel meines Pferdes befestigte, hatte ich immer dabei. Doch am liebsten benutzte ich Tarpens Dolch. So war er irgendwie bei mir und jagte mit.
Besonderes Vergnügen bereitete mir das Aufspüren von versprengten Rotgardisten, die sich in den Wäldern und sogar auf Dachböden in der Stadt versteckten. Zuweilen gerieten ehemalige Angehörige der Tscheka oder Offiziere der Rotgardisten zwischen meine Finger. Sie verkrochen sich überall, weil sie die Hinrichtung fürchteten, wenn sie sich stellten. Die einfachen Soldaten wurden meist jedoch in unsere Armee eingegliedert, sofern sie zustimmten. Bockten sie herum, wurden sie in ein Gefangenenlager gesperrt. Hingegen landeten die Offiziere und Tschekisten ausnahmslos am Galgen. Zuweilen mussten sie Folterungen durchstehen, weil man geheimes Wissen aus ihnen herausquetschen wollte. Mein hervorragender Spürsinn und zunehmende Erfahrung leisteten mir bei diesen Ausflügen, die der Rache dienten, gute Dienste. Wie eine einsame Wölfin durchstreifte ich die grünen Hügel und Wälder. Dabei ritt ich auf dem Rücken meines wunderbaren Karuschkas. Sein Fell glänzte in einem edlen Schwarzbraun. In wenigen Tagen war er zu einem Rappen von außergewöhnlicher Schönheit gesundet. Auch seine Furcht vor mir hatte sich gelegt, mittlerweile trug er mich ruhig über die Felder. Das war mein Werk. Er spürte, dass er mir die Genesung verdankte. Voller Freude wieherte er zuweilen ausgelassen.
Ich betrachtete diese Jagd als Teil meines Rachefeldzuges. Genüsslich zog ich oftmals die letzten Minuten meiner Opfer in die Länge, ließ sie wieder frei, schenkte ihnen ein wenig Hoffnung und erlegte sie dann doch. Ihre Gegenwehr war zumeist gering, da sie verletzt waren oder aus Vorsicht ihre Schusswaffen nicht einsetzten. Die meisten hatten diese sogar fortgeworfen, um nicht erkannt zu werden.
Natürlich gab es auch unter der Bevölkerung, die der Zarenfamilie wohlgesinnt war, unzählige Landsleute, die den Tod verdient hatten. Ich verschonte sie – aufgrund des Überangebotes aus den feindlichen Reihen. War das nicht eine Form von Gerechtigkeit?
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