Keine Ratte wagte sich mehr in meine Nähe. Eine Schicht aus Mordlust und Hass umschloss nun mein Menschsein und forderte Rache.
Hätte Papa den Bolschewikenkönig Lenin und seine Helfer nur nicht ins Exil geschickt, sondern ihnen das Herz aus dem lebendigen Leib reißen lassen, wie sie es verdienten. Jetzt musste das von mir geleistet werden. Die neue Olga würde ihr Blut fordern, sie strafen, auslöschen, langsam und grausam, so wie sie es mit uns getan hatten. Hieß es nicht: Auge um Auge, Zahn um Zahn? Es war die einzige Sprache, die dieses Gesindel verstand. Schuld musste gesühnt und Böses vernichtet werden.
Die Schüsse waren inzwischen sehr laut. Die Kämpfe mussten in unmittelbarer Nähe erfolgen. Wie sollte ich vorgehen?
Von oben drang zaghaft Licht herein. Es wurde Tag. Würde ich die Sonne vertragen oder stimmten die Geschichten, die man sich erzählte? Wie kam ich hier heraus? Die Wände des Schachtes waren sehr steil.
Ein Fahrzeug rumpelte heran. Entsetzen und Panik fuhren in meine Glieder. Sie kamen zurück. Was war zu tun?
Inzwischen fühlte ich mich kraftvoller. Die Geschichten über diese besondere Medizin waren also wahr.
Ich flüchtete, um einen Ausweg zu suchen. Neu war, dass mir das Dunkel keine Furcht einjagte. Die Welt des Lichts hatte sich als grausamer erwiesen.
Die hier lebenden Tiere fürchteten sich vor mir. Alle Wege endeten leider nach einigen Metern. Das Erdreich war in die schlecht gesicherten Stollen eingebrochen. Es waren eben russische, die schon so manchem fleißigen Bergmann das Leben gekostet hatten.
Stimmen drangen von oben zu mir. Jemand wurde herabgelassen. Leise schlich ich zurück.
„Sei vorsichtig!“, rief man ihm nach.
„Keine Sorge!“, scholl es leise zurück.
Die Stimme gehörte zu einem Rotgardisten aus dem Bataillon unserer Bewacher. Mein Herz pochte wild. Ich hatte doch gelernt zu kämpfen, war Kommandantin eines Reiterbataillons gewesen und zudem in asiatischer Kampfkunst geschult. Meine Wunden waren zwar tief, aber durch die Wirkung des Mittels konnte ich den Schmerz ertragen. Es hatte auch dafür gesorgt, dass ich nicht verblutete.
„Willkommen!“, dachte ich. Beschloss aber klug zu handeln. Ich musste listig sein und den Vorteil der Überraschung nutzen.
Die Zeit der Rache war gekommen. Jetzt sah ich den Mann. Das Seil hing von oben auf den Boden der Grube herunter. Sein schwitziger Geruch wehte herüber.
„Bind immer nur einen fest. Wir ziehen den Toten dann hoch!“ rief der verhasste Jurowski herunter.
Sie wollten die geschändeten Leichen wieder nach oben holen. Die Furcht, dass die Weißgardisten dieses Gebiet bald eroberten, da die Front nur noch wenige hundert Meter entfernt war, trieb sie an. Jetzt wollten sie ihr Verbrechen auf andere Weise vertuschen.
Der Soldat band meine kostbare Mutter mit den Füßen an das Seil. Ich kochte, rang aber um Beherrschung. Nur mit Besonnenheit konnte ich aus dem Gefängnis entweichen.
Wie ein Schlachttier wurde meine blutende Mutter mit den Beinen zuerst und herabhängenden, aufgelösten Haaren nach oben gezogen.
„Bekommt ihr die Schlampe hoch?“, schrie der Mann von unten.
Seine Herzlosigkeit würde ihn sein Leben kosten.
„Kein Problem“, riefen die Oberen.
Das Seil wurde wieder nach unten gelassen. Der Bolschewik hatte sich inzwischen eine Papyrus-Zigarette angezündet. Ich roch den billigen Tabak. Beim Anzünden musste ein Lichtschein bis zu mir gedrungen sein.
„Ist da wer?“, fragte der Soldat vorsichtig, sich wohl selbst Mut machend.
Erwartete der Narr, dass jemand antwortete?
„Was ist los?“
„Ich weiß nicht, ich hab da irgendetwas gesehen“, erwiderte der Soldat.
„Scheiß nicht in deine Hose, da sind Ratten unten!“
Der Rotgardist band nun Anastasija auf die gleiche würdelose Weise fest. Man zog sie nach oben. Nackt baumelte sie am Seil.
Nun musste gehandelt werden. Es konnte nämlich sein, dass die oberen Männer in ihrer hinterhältigen Manier beschlossen, sich des Zeugen hier unten zu entledigen. Den Bolschewiken konnte man alles zutrauen.
Schuldig war mein Feind genug. Seine herzlose Art zeigte, dass er längst abgestumpft war. Genug Blut klebte an seinen Fingern und verdunkelte die Seele.
Ich wollte sein Leben, hatte aber noch nie von Mann zu Mann gekämpft. Zudem verfügte ich noch nicht über meine ganze Kraft. So riet der menschliche Teil in mir zur Vorsicht, der andere zum sofortigen kaltblütigen Mord! Der Überraschungseffekt verschaffte mir einen gewissen Vorteil und die bessere Ausgangsposition.
Ich schlich mich auf leisen Sohlen von hinten an ihn heran, als er Tatjanas Leichnam vorbereitete. Ich durfte keinen Augenblick zögern.
Mein rechte Hand umklammerte seinen Mund und versuchte ihm dabei das Genick zu brechen. Er wand sich aber so vor Schreck, dass es nicht gelang.
Ich ließ die Hand auf seinem Mund und drückte nun noch mit meinem linken Arm zusätzlich den Hals ab. Es durfte kein Laut nach oben dringen, damit das Kommando dort keinen Verdacht schöpfte. Wir rangen wild und ich musste leider feststellen, dass meine Kraft noch geringer war, als ich es im Zorn vermutet hatte. Die Angst machte ihn stärker, zudem war er im Kampf erfahren. Wir wühlten inzwischen auf dem Boden miteinander. Ich hatte keine Zeit zum Nachdenken, die Zeit wurde knapp. Meine Zähne gruben sich in seinen Hals, doch die Haut und die Muskeln widerstanden dem ersten Biss. Panisches Entsetzen beflügelte den Mann. Seine Gegenwehr war groß. Ich biss tiefer und tiefer wie ein Kampfhund. Endlich spürte ich das Blut warm aus seiner Wunde rinnen und bald darauf sogar aus der Ader spritzen.
Das Seil wurde bereits heruntergeworfen. Noch immer kämpfte er jedoch um sein jämmerliches Leben. Es ging um alles! Meinen Kopf hin und her bewegend, riss ich seine Wunde klaffend weit auf. In einer Fontäne sprudelte der Lebenssaft heraus und nahm ihm alle Kraft.
Die erste Auseinandersetzung war knapp gewonnen. Das menschliche Blut schmeckte ganz anders, als ich geglaubt hatte. Das Getränk war bitter, doch es wärmte mich noch mehr und gab mir große Kraft.
Um die Häscher nicht misstrauisch zu machen, beschmierte ich meinen nackten Körper rasch mit Schmutz und tarnte so das frische Blut. Dann band ich das Seil eilig um meine nackten Beine und ruckte an der Schnur.
Die Rotgardisten zogen die vermeintliche Tote hoch. Die offenen Wunden begannen zu schmerzen, doch ich unterdrückte jede Äußerung. Niemand schöpfte bis jetzt Verdacht. Die Männer schmissen mich achtlos auf die Erde und entfernten das Seil. Der brodelnde Hass in mir forderte ihr Blut ein. Ich musste mich gedulden und zuerst retten. Zum Glück kam in dem Moment eine Einheit fliehender Rotgardisten herbeigerannt und zog die Aufmerksamkeit der Männer auf sich.
„Haut schnell ab!“, schrien sie.
„Die Weißen brechen durch die Front und sind hinter uns her!“
„Verflucht!“, schrie einer der Männer, die mich hochgezogen hatten.
„Wir müssen uns beeilen!“
Sie ließen das Seil abermals hinunter. Doch niemand nahm es.
„Was ist da unten los? Melde dich, Sergej, du Schwachkopf! Machst du mit den Toten rum?“
Keine Antwort kam zurück.
Die Männer wurden aufgeregt und schauten in die Grube, konnten jedoch nichts sehen.
„Einer muss runter und nachsehen, was dort los ist!“, befahl ihr Kommandant.
Ich nutzte diese Aufregung, da keiner zu mir schaute, um mich in die nahen Büsche wegzurollen und zu fliehen. Das Gewehrfeuer peitschte inzwischen sehr nahe und Granaten explodierten in einiger Entfernung. Schreie und Gebrüll gingen hin und her.
„Sergej, was ist los?“, riefen die nervösen Rotgardisten immer wieder frustriert in den Schlund der Dunkelheit. Sie ahnten, dass etwas nicht stimmte.
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