Es gab nur folgende Möglichkeiten: Ich hatte vielleicht doch überlebt und war durch die Verletzungen blind und gelähmt. Dann würde ich offensichtlich noch sterben. Aber das dürfte bei der Gründlichkeit der Mörder und der Vielzahl meiner Verletzungen unwahrscheinlich sein.
Eventuell war ich zu einem Geist geworden. Dagegen sprach jedoch, dass ich immer noch auf menschenähnliche Art dachte, hörte und roch.
Somit erschien nur eine dritte Variante zutreffend. Mamas Kapsel hatte diesen Zustand herbeigeführt. Das Mittel aus der geheimen Schatzkammer war echt und wirkte tatsächlich. Die Zeit hatte der Kraft des Nektars nicht geschadet.
Meine Haut erfühlte inzwischen die Kühle und Feuchtigkeit der Umgebung. Die Sinneswahrnehmungen kehrten offensichtlich schrittweise zurück. Alles um mich her war nass.
Ein rasender Schmerz durchtobte meinen Körper. Ich spürte jetzt die Wunden und plötzlich auch einen langsamen, leichten Schlag meines Herzens. Das wenige Blut wurde davon durch die Adern gepumpt. Es schlug wieder spürbar.
In der Ferne hörte ich Schüsse und Granatexplosionen.
„Die Front rückt näher! Wann sind wir endlich beim Schacht?“, grummelte ein Begleiter unserer Fahrt.
Ich konnte nur vermuten, dass sie neben uns saßen. Der Wagen kutschierte die scheinbar leblose Fracht zum geplanten Grab.
Angst machte mir zu schaffen. Gleichzeitig erfasste mich selbst Kampfeslust. Ich zwang mich zur Beherrschung. Nur wenn ich klug vorging, konnte ich erfolgreich sein.
„Die weißen Banditen schließen den Ring um Jekaterinburg“, hörte ich den verhassten Jurowski nervös sagen. Er war also mit von der Partie.
„Sie kommen jedoch zu spät, die Zarenbagage ist schon tot!“, schloss er höhnisch und stolz auf sein Mordwerk.
„Das kann für uns aber böse enden“, wandte einer der Soldaten zögerlich ein.
„Keiner wird es erfahren! Wir schmeißen alle in den Schacht und sprengen diesen, da findet sie niemand mehr! Dann machen wir uns davon. Jekaterinburg muss leider vorerst aufgegeben werden. Aber wir kommen wieder.“
Das Ruckeln des Wagens übertrug sich deutlich. Inzwischen erfasste ich die Situation immer besser. Doch noch immer waren meine Muskeln gelähmt. Würde sie noch erstarken? Konnte ich mich überhaupt befreien, wenn sie mich vergruben? Befürchtungen und Wut mischten sich. Panik und Hass wechselten in mir.
Wir waren wohl angekommen, weil das Fahrzeug hielt. Ich konnte immer noch nicht sehen.
„Schmeißt das Gesindel in die Grube!“ befahl Jurowski.
„Sollen die Ratten ein Festmahl bekommen!“, höhnte Medwedew.
Jemand wurde von der Pritsche genommen. Die Rotgardisten trugen die erste Leiche davon.
Mir war so unendlich kalt! Bis in das Mark wirkte die Kälte und lähmte mich zusätzlich.
Das Kommando holte einen weiteren Toten ab. Sollte ich nun unter einer Ladung Erde mein Ende finden? Trotz meines eigenwilligen Zustandes empfand ich Furcht und wollte nicht begraben werden.
Konnte das nicht doch ein Traum oder das Delirium des Todes sein?
„Macht schnell!“, hetzte Jakow Michailowitsch Jurowski seine Männer.
„Die Schüsse kommen immer näher. Die Front scheint gerade ganz aufzubrechen!“
Jetzt war ich an der Reihe. Den Gestank des Schweißes meiner Peiniger, den Geruch des billigen Tabaks und ihres warmen böswilligen Blutes werde ich nie vergessen, er prägte mich. Sogar ihre pochenden Herzen glaubte ich zu hören. Mordgier stieg in mir auf. Der sich wandelnde Körper verlangte nach einer ganz besonderen Nahrung. Das waren keine menschlichen Gefühle, sondern die eines neuen, mir fremden Wesens. Sie waren stärker als mein Verstand.
Ich jaulte auf, doch zum Glück entrang sich kein Ton meinem Hals. Tobend wollte ich am liebsten auf sie, doch der Körper blieb versteinert.
„Hast du das auch gefühlt?“, stieß einer der Träger ängstlich hervor.
„Was?“, flüsterte der andere.
„Irgendeine Bewegung! Und mir ist plötzlich eisig kalt. Meine Haare stehen zu Berge!“
„Das ist so mit Leichen, die zucken manchmal. Das ist wie bei geköpften Hühnern“, wiegelte der andere ab.
Ich fiel aus recht großer Höhe zu Boden und schlug auf. Dabei brach anscheinend ein Rippenknochen. Frischer Schmerz durchzuckte mich. Ich verlor erneut das Bewusstsein. ...
Als ich wieder erwachte, hörte ich von oben Stimmen.
„Geht hier wirklich alles schief? Die Sprengladung explodiert einfach nicht! So eine Hundescheiße! Fick doch deine Mutter! Die Weißen kommen immer näher! Wir müssen zurück in die Stadt und Säure sowie Benzin holen. Das Pack muss verbrannt werden! Keiner darf sie finden!“, schimpfte Jurowki.
Ihr Plan hatte wie durch ein Wunder nicht funktioniert. Sie fuhren noch einmal fort.
Töten ist schwierig, das Verbergen des Verbrechens ebenso. Die Welt hatte sich gegen sie verschworen.
Von oben hörte ich Schüsse, hier unten das Getrappel von Tieren. Es waren offenbar aufgeregte Ratten.
Nach einiger Zeit konnte ich mich etwas bewegen. Die Lähmung ließ nach. Auch die Sehkraft kehrte endlich mit neuer Stärke zurück. Zuerst konnte ich nur einen Finger, dann ein Augenlid, dann einen Zeh heben. Eine Ratte hatte sich inzwischen an meinem nackten Bein zu schaffen gemacht und biss probeweiser vorsichtig ein Stück Haut heraus.
Angewidert und zornerfüllt griff ich zu. Das erstaunte Tier hatte damit nicht gerechnet und vergaß zu fliehen.
Boshaft sah ich dem verängstigten Tier in die Augen und quetschte die Hand zusammen. Blut tropfte durch die Finger in meinen Mund. Weitere Kraft begann mich zu durchströmen. Die eisige Kälte meines Inneren erwärmte sich und ließ die Starre der Muskeln schwinden.
So lag ich eine Weile da und jagte auf diese Weise. Es war ein kleines Vergnügen und die erste Mahlzeit zugleich. Ich nahm das neue Leben dankbar an. Die Welt der Lebenden hatte mich schlecht behandelt und ausgestoßen. Jetzt würde ich den Spieß umkehren, sofern ich entkam.
Nachdem etwas Kraft zurückgekehrt war, erhob ich mich mühsam. Ein bitterer Anblick bot sich. Nackt, blutüberströmt und von Wunden zerrissen lag meine gesamte Familie wahllos auf dem Boden, weggeworfen wie Müll. Die Ratten hatten sich inzwischen aus Angst verzogen.
Eisige Tränen rannen mir aus den Augen und wahnsinniger Zorn erfüllte mein Herz. Es war mühsam, hier die Beherrschung zu bewahren. Damit es mir nicht wie dem Vampir erginge, dessen Blut mich erweckt hatte, musste aber der Verstand vor dem Zorn gehen.
Als Erstes blickte ich zu meinem Vater. Es gibt für ein großes Kind keinen unangenehmeren Anblick als vollkommen entblößte Eltern. Die Wut über diese Würdelosigkeit ließ erneut Hass auflodern, doch ich zwang ihn für den Moment hinunter. Papa war voller Blut und sein Gesicht fast unkenntlich.
Oh, armer Vater! Meine Tränen mischten sich nun mit seinem Blut. Ein schauerlicher Gewimmer meines Schmerzes erfüllte das Dunkel der Grube.
Der Schmerz zeigt mir, dass tief in meinem Herzen noch Liebe war. Ich umschloss diese nun mit Groll. Sie sollte fortan unter Verschluss und ein Geheimnis bleiben.
Genauso verabschiedete ich mich von Mama, die mir dieses zweite Leben geschenkt hatte. Wie ein Baby legte ich mich auf ihre blutigen Brüste und ließ rote Tränen aus den Augen rinnen. Auch diese Gefühle umschloss ich mit Hass.
Dann nahm ich meinen Bruder, den Zarewitsch, in die Arme, so wie ich es als älteste Schwester oft getan hatte. Was hatten die Monster unserem Baby angetan? Sein Kopf war zerschossen und auch sein zartes Antlitz kaum noch zu erahnen.
Wie wunderbar erscholl einst sein Lachen, wie stolz waren wir auf seine ersten Schritte, die von unserer Angst begleitet wurden, er könne sich stoßen.
Tatjana erschien mir fast lebendig, sodass ich immer wieder prüfte, ob sie nicht doch atmete. Vielleicht hatte Mama ihr die auch das Mittel gegeben? Sie war jedoch tot. Auch die Schwesterliebe umschloss ich mit Wahnsinn und Raserei. Ebenso tat ich es bei Maria und Anastasija.
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