„Auf jeden Fall ist Sandrine Martin Expertin, was Pilzgifte betrifft. Sie hat bereits über Aflatoxine, das sind Schimmelpilzgifte, gearbeitet.“
„Die sind doch auch krebserzeugend, oder?“, rief Christine aus der Küche. Sie war kurz aufgestanden, um etwas zum Knabbern zu holen.
„Aber wie! Es gibt immer wieder Berichte, dass Pistazien, Erdnüsse und Paranüsse besonders häufig mit Aflatoxinen belastet sind.“
„Und der Apfelsaft?“ Christine war mit eine Schale Nüssen und zwei Gläsern Apfelsaft zurückgekommen und setzte sich wieder zu Leo auf das Sofa.
„Da habe ich auch ein bisschen nachgeforscht. Bisweilen findet man auch hierzulande Patulin im Apfelsaft, aber das ist eher die Ausnahme und die Grenzwerte werden angeblich nicht überschritten. Mit zunehmendem Alter des Saftes nimmt übrigens der Gehalt an Patulin wieder ab.“
„Na toll!“ Christine lachte und trank einen Schluck. „Also den Saft möglichst lange stehenlassen, bevor man ihn trinkt!“
Jetzt mussten sie beide lachen und stupsten sich dabei an.
„Aber vielleicht ist an der Geschichte doch mehr dran“, meinte Leo nachdenklich. „Besonders, wenn auch der Cidre damit verseucht ist. An Cidre denkt doch niemand, wenn es um Patulin geht.“
„Und der Calva?“ Christines Gesicht war auf einmal dicht vor ihm und sie blickte ihm tief in die Augen.
„Wer weiß?“ Leo gab ihr einen Kuss.
„Das mit dem Patulin wäre doch ein gutes Projekt, um dein neues Labor am LEAG einzuweihen!“ Christine hatte sich inzwischen neben ihm ausgestreckt und zog ihn sanft zu sich herunter.
„Offiziell kann ich denen aber damit nicht kommen“, antwortete Leo, nachdem er sie wieder und diesmal länger geküsst hatte. „Die warten doch im LEAG nicht darauf, dass ich ihnen irgendwelche Projekte anschleppe.“
Christine schlang einen Arm um seine Schultern und nestelte ihm mit dem anderen sein Hemd aus der Hose.
„So etwas muss man bestimmt extra beantragen!“, fügte Leo hinzu.
„Schon genehmigt“, meinte Christine und zog sich ihren Pullover über den Kopf.
„Quatsch, ich meinte doch das mit dem Patulin …“
Christine lachte nur und sagte: „Ist mir schon klar, aber ich meine jetzt etwas ganz Anderes …“
Ihre Lippen verschmolzen zu einem langen Kuss und beide waren für einen Moment damit beschäftigt, sich ihrer restlichen Kleidungsstücke zu entledigen.
Sie lagen beide auf Christines Sofa. Leo schmiegte sich an Christines warmen, einladenden Körper. Er begehrte sie mit einer Leidenschaft, die er vom Anfang ihrer Beziehung kannte. Er nahm sie, die dazu bereit war, ungestüm und zärtlich zugleich und fühlte die Wellen der Erregung in sich auf und abschwellen. Es war, als wäre es das letzte Mal, an dem sie sich so vorbehaltlos lieben konnten. Auch Christine schien von diesem Gefühl gefangen zu sein. Ihr Atem ging stoßweise und sie antwortete auf sein Begehren in der gleichen Weise, wie sie ihm entgegenkam. Ihre Körper verschmolzen miteinander in dem Moment des Höhepunktes, der sie beide gleichzeitig überraschte.
Von irgendwo her kam Leo der Gedanke, als wäre es zugleich ein Abschied. Ein Fenster war offen gewesen, durch das sie das Licht ihrer gegenseitigen Erfüllung sehen konnten. Aber mit den Wellen der langsam verebbenden Erregung würde sich auch dieses Fenster für immer schließen. Er hielt Christine, die lächelnd neben ihm lag, fest im Arm und vergaß diesen Gedanken im gleichen Moment, als er ihr in die Augen sah.
Die Zeit war für eine Weile stehengeblieben, und als Leo seine Augen wieder öffnete, lag er allein auf dem Sofa. Er warf einen Blick aus dem Fenster. Der Himmel war voller grauer Wolken und es regnete noch stärker. Christine war aufgestanden. Nach einer Weile hörte Leo aus der Küche das Zischeln der Espressokanne und der Duft des Kaffees verbreitete sich in der kleinen Wohnung. Gleich darauf kam Christine mit zwei Espressotassen zurück.
„Spontane Einfälle sind doch die besten.“ Leo zog sich an, während Christine den Kaffee auf den Tisch stellte.
„Eben“, sagte sie und lachte.
In der Zeit, als Christine in der Küche war, hatte Leo wieder daran gedacht, was Christine von Sandrine Martin erzählt hatte.
„Hattest du, nachdem du bei ihr an der Uni warst, noch einmal Kontakt mit Sandrine Martin?“
„Nein, nie wieder. Sie hatte ja kein Interesse gezeigt, mir noch mehr darüber zu erzählen.“
„Ich dachte nur, wir könnten sie ja zu einem Vortrag im LEAG einladen, um dort für das Thema Pilzgifte in Nahrungsmitteln Interesse zu wecken.“
Christine trank ihren Espresso und machte ein skeptisches Gesicht: „Nachdem, wie sie damals reagiert hat, habe ich nicht den Eindruck, dass sie mit jemandem darüber reden will. Aber wer weiß, vielleicht doch mit einem Kollegen vom Fach?“
Sie sah Leo verschmitzt an. „Ich habe noch ihre Kontaktadresse an der Université Paris-Sud und du kannst doch mal versuchen, sie dort zu erwischen.“
6. Berlin-Dahlem, 3. September 1990
Es war Montagmorgen und Leo erinnerte sich an das vergangene Wochenende und die schönen Stunden, die er gemeinsam mit Christine verbracht hatte. Heute war sein erster Arbeitstag am LEAG. Der Himmel war so grau, wie er schon am Wochenende gewesen war, aber immerhin regnete es nicht mehr.
Als Leo das Gelände des LEAG betrat, überkam ihm eine Ahnung, als gehöre sein bisheriges Leben einer Vergangenheit an. Eine Zeit, die mit dem heutigen Tag ihren unwiderruflichen Abschluss gefunden hatte. Die Arbeit an der Hochschule war ihm eher wie eine Verlängerung seiner Studentenzeit erschienen. Er hatte sich damit die Illusion eines Lebens bewahrt, das mit dem Alltag an einer Behörde schwer in Einklang zu bringen war.
Sein erster Gang in seiner neuen Dienststelle führte ihn in das Verwaltungsgebäude, ein grauer vierstöckiger Betonriegel aus den sechziger Jahren. Der Vormittag war dafür vorgesehen, dort diverse Unterschriften zu leisten, mit denen seine Anstellung amtlich besiegelt werden sollte.
Als er über den langen, vom Neonlicht spärlich beleuchteten Flur ging, um das für sein Anliegen zuständige Büro zu suchen, sah er dort eine große, nach vorne gebückte Gestalt vor einer Tür stehen. Die Schultern und Arme zusammengepresst, wie eine Inkarnation der Demut, wartete der Mann auf Einlass in ein Büro, vor dem er stand wie vor einem Heiligtum, an dessen Pforte er kaum gewagt hatte, anzuklopfen. Wie ein Blitz durchfuhr Leo eine Vorahnung, was ihn hier erwarten würde. Die wenigen Menschen, die er hier sah, begegneten ihm wortlos mit abgewandtem Blick. Sie wirkten dabei wie Schatten, an denen er vorüberging. Aus ihren Gesichtern sprach Angst, Resignation oder Leere. Abgestumpftheit. Welchen Sinn sah man dann noch in seiner Existenz? Leo wurde plötzlich unsicher, wer er selbst noch war, in dieser Umgebung.
Er sprach jemanden auf dem Flur an und fragte nach dem besagten Büro. Ihm begegnete kaum verhülltes Misstrauen, garniert mit knapper Information: Raum B232 zweiter Stock, erster Flur links. Leo ging weiter, vorbei an einer schier endlosen Reihe von Türen. Er lief über voneinander abzweigende Flure, die ihm wie ein Labyrinth erschienen. Die Reihe der geschlossenen Türen wirkte mit ihrem glänzenden Anstrich wie die Phalanx eines antiken Heeres, das ihm seine spiegelnden Schilder bedrohlich entgegenhielt.
Eintritt nur nach Aufforderung. Versteckte sich hinter diesem Hinweis auf der Tür nicht die Angst, bloßgestellt zu werden in der eigenen Überflüssigkeit? Schließlich fand er das gesuchte Büro. Leo überlegte einen Moment, was er gerade im Begriff war, zu tun.
Der gespenstische Eindruck war so plötzlich verflogen, wie er gekommen war. Leo klopfte kurz an. Er öffnete die Tür, noch bevor er dazu aufgefordert wurde. Nachdem er den Stapel Formulare ausgefüllt und unterschrieben hatte, machte er sich auf den Weg über das Gelände des LEAG. Sein Ziel war das Haus 23. Das Gebäude, in dem ihn sein zukünftiger Vorgesetzter, ein Herr Dr. Bernhard Malus und eine wissenschaftliche Mitarbeiterin aus Malus Fachgruppe, Frau Dr. Anke Barkowski-Gertenbauer, erwarteten.
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