Für einen Moment hatte sie bereut, nicht gleich zur Polizei gegangen zu sein. Vielleicht hätte man den Kerl auf dem Foto auch von seinem Hinterkopf her identifizieren können? Aber das hätte sie gleich nach der Vergewaltigung machen müssen. Ins Krankenhaus gehen, dort hätte man ihren Zustand dokumentiert und Abstriche genommen, dachte sie bitter. Spermaproben, um die Täter zu überführen. Aber selbst das hätte ihr wahrscheinlich nichts genützt. Die in der Scheune dabei gewesen waren, hätten alle bezeugt, dass sie freiwillig bei einer kleinen Orgie mitgemacht hatte.
Stattdessen hatte sie nach ihrer Rückkehr selbst bei sich Vaginalabstriche vorgenommen und diese in Probenröhrchen eingefroren. Nur sie wusste, was sich hinter den Kürzeln auf den Röhrchen verbarg. Und diese Scheusale sollten nicht glauben, ungeschoren davonzukommen. Weder für die Panschereien mit dem Calvados noch für das, was sie ihr angetan hatten. Der Tag der Abrechnung würde kommen.
Sandrine konnte sich nicht mehr daran erinnern, was in den Stunden nach ihrer Vergewaltigung passiert war. Sie hatte das Bewusstsein verloren und irgendwann mussten sie von ihr abgelassen haben. Als sie wieder aufwachte, war es bereits dunkel und sie lag im Gras auf einer feuchten Wiese. Es war kalt geworden und der Brechreiz überkam sie, immer wieder, bis es nichts mehr zum Auskotzen in ihrem Magen gab. Als sie festgestellt hatte, dass ihre Verletzungen nicht zu schwer waren, war sie über die Landstraße nach Blagny gehumpelt, wo sie ihr Auto abgestellt hatte.
Bei der Rückfahrt nach Paris war es ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen, bis sie am frühen Morgen in ihr kleines Appartement im Studentendorf in Orsayville gelangt war. Dort hatte sie zwei Tage zusammengekrümmt wie ein Embryo im Bett gelegen, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Erst am Montag, an dem ihre Rückkehr eingeplant war, tauchte Sandrine wieder in ihrem Institut auf. Ihren Kollegen hatte sie erzählt, man hätte ihr ins Gesicht geschlagen, sie wäre ohnmächtig geworden und hätte den Schläger nicht erkannt. Aber sie wusste, dass Patrick Guérin der erste der beiden Männer gewesen war, die sie vergewaltigt hatten.
Und jetzt hatten sie vielleicht vor, sie mit einer Frau in die Falle locken. Wenigstens eine Frau hatte bei ihrer Vergewaltigung zugeschaut und vulgäre Gemeinheiten von sich gegeben, als sie am Boden lag und alles hilflos über sich ergehen lassen musste.
Aber da war der Akzent. Die Frau, die gerade angerufen hatte, hatte einen leichten Akzent. Sie hatte sich als Christine Bergmann vorgestellt. Eine Deutsche, Journalistin bei dem deutsch-französischen Radiosender AFT. Der Akzent passte dazu, obwohl die Frau ansonsten perfekt Französisch sprach. Sandrine konnte sich nicht erinnern, bei ihren Exkursionen entlang der Route du Calvados einer Deutschen begegnet zu sein. Trotzdem wollte sie Vorsicht walten lassen.
Sie hatte sich mit der angeblichen Journalistin im Labor verabredet, nachdem diese ihr erklärt hatte, sie interessiere sich für ihre Untersuchungen an Giftstoffen im Calvados. Woher sie davon wüsste, hatte Sandrine gefragt, und die Frau sprach von Andeutungen, die ihr während einer Reportage in der Normandie zu Ohren gekommen seien. Sie wirkte ehrlich und Sandrine hatte sich vorgenommen, sie zumindest anzuhören. Zur Sicherheit hatte sie sich aber eine Spritzflasche mit konzentrierter Natronlauge in Reichweite gestellt. Wenn diese Frau von denen geschickt worden war, um sie zu bedrohen, würde sie sich danach im Spiegel nicht mehr wiedererkennen können.
4. Université Paris-Sud, 17. August 1990
Christine gelangte auf Umwegen in das modern ausgestattete Gebäude des Institutes für Lebensmitteltechnologie der Université Paris-Sud . Sie hatte sich durchfragen müssen, die Gebäude auf dem Universitätsgelände lagen weitläufig voneinander entfernt. Nun war sie bis zu einem großen Laborraum vorgedrungen, in dem sie eine zierliche, mit einem weißen Kittel bekleidete Frau in steifer Haltung an einem mit Gerätschaften vollgestellten Labortisch erwartete.
Sandrine Martins Labor war ein großer, heller Raum, der mit einem Mitteltisch, auf dem verschiedene Geräte standen, ausgestattet war. Es sah hier sehr aufgeräumt aus, im Gegensatz zu Leos Labor, dessen Arbeitsplatz immer zur Hälfte mit allem möglichen Zeug vollgestellt war.
„So weiß ich wenigstens, wo alles steht“, hatte Leo ihr einmal gesagt. „Zumindest, solange keiner dazwischen fummelt und die Sachen umstellt.“ Christine hatte Leo manchmal aus seinem Labor abgeholt. Wenn es zeitlich passte, gingen sie zusammen in die Mensa der FU zum Mittagessen.
Sandrine Martin trug ihre dunklen Haare halblang, ihr herzförmiges Gesicht war blass, ihr Mund war ungeschminkt und Sommersprossen lugten auf ihren vollen Wangen unter den hellen Augen hervor. Irisch, ja keltisch sah sie aus, fand Christine. Der distanziert musternde Blick von Sandrine Martin war ihr nicht entgangen, ebenso wenig wie die Spuren eines Faustschlags, die um das linke Auge der Chemikerin herum sichtbar waren. Sandrine Martin hatte versucht, das Veilchen zu überschminken, aber es war ihr nicht ganz gelungen. War diese junge Frau ein Opfer häuslicher Gewalt? Unwillkürlich starrte Christine auf Sandrine Martins Hände; einen Ehering trug sie nicht, aber was hieß das schon?
Hinter ihnen öffnete sich eine Glastür, ein beleibter Mann, der mit einem blauen Kittel bekleidet war, erschien und lud wortlos Eimer mit benutztem Laborgeschirr auf einen Rollwagen.
„ Merci, Rémi!“, rief die Chemikerin und rührte sich nicht von der Stelle. Der Mann machte eine scherzhafte Bemerkung und schob den beladenen Laborwagen zurück in den Flur. In der Zwischenzeit hatte Christine ihre Tasche geöffnet und einen Schreibblock herausgeholt. „Möchten Sie hier mit mir reden oder haben Sie einen gemütlicheren Ort, wo wir uns auch hinsetzen können?“
„Vielleicht, aber zuerst möchte ich wissen, wer Sie sind“, sagte Sandrine Martin distanziert. „Haben Sie etwas Brauchbares, dass Sie als deutsche Journalistin ausweist?“
Allmählich kam Christine der Verdacht, dass die Spuren im Gesicht dieser Frau doch nicht von häuslicher Gewalt stammten. Sandrine Martin hatte eindeutig Angst und war misstrauisch gegenüber Fremden. Christine kramte ihren Reisepass und ihre Akkreditierung als Journalistin aus der Handtasche. Die Chemikerin musterte die Dokumente schweigend und ihre Anspannung schien etwas nachzulassen.
Schließlich sagte sie: „Okay, kommen Sie mit.“
Sie verließen das Labor und gingen ein Stück über den Flur in ein Büro. Im Gegensatz zur Ordnung im Labor sah es hier ziemlich chaotisch aus. Auf dem Schreibtisch der Chemikerin stand ein voller Aschenbecher und daneben eine geöffnete Flasche mit Mineralwasser. Sandrine Martin räumte einen mit Büchern vollgestellten Stuhl frei. Sie bedeutete Christine, sich dort hinzusetzen. Dann zündete sie sich eine Zigarette an, inhalierte tief und setzte sich Christine gegenüber.
„Sagen Sie mir zuerst, was und woher Sie überhaupt von mir wissen.“
Christine erzählte von ihrer Reportage und dem Interview mit dem Generalrat aus Bonnesource , der sie auf die Arbeit von Sandrine Martin gebracht hatte.
„Und der hat Ihnen nicht gesagt, um welche Giftstoffe es sich handelt?“, fragte die Lebensmittelchemikerin spöttisch.
„Nein. Ich vermute, es sind Spritzmittel, Pestizide, oder?“
Sandrine Martin winkte müde ab. „Das ist noch ein anderes Kapitel, aber er hat Ihnen also nichts vom Patulin erzählt?“
„Patulin?“ Christine hatte dieses Wort noch nie gehört. „Was ist das?“
„Das kann ich mir denken, dass er nicht darüber reden wollte“, erwiderte Sandrine Martin wie zu sich selbst. „Patulin ist ein Schimmelpilzgift, es entsteht in Faulstellen an Obst, und besonders stark bei Äpfeln ...“
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