Gegen Ende seiner Zeit an der Universität hatte er begonnen, sich nach einer neuen Beschäftigung umzusehen. Auf seine Bewerbungen erhielt er eine Zusage, die es ihm ermöglichte, in Berlin zu bleiben. Es handelte sich um ein auf drei Jahre befristetes Forschungsvorhaben am Lebensmittel- und Agraramt, das in Berlin-Dahlem, unweit der Universität angesiedelt war. Er bekam noch andere, wissenschaftlich gesehen, interessantere Angebote an anderen Orten. Aber Leo wollte in Berlin bleiben, in einer Stadt, die sich gerade häutete wie ein Insekt und sich im vollständigen Wandel befand.
Dafür nahm er auch in Kauf, von der Universität an eine Behörde zu wechseln. Wenn er in Berlin bleiben wollte, blieb ihm keine andere Wahl. Ihm war bewusst, er würde sich damit in mancher Hinsicht umgewöhnen müssen und ein paar Kollegen von der Uni hatten ihn vor diesem Schritt gewarnt. Damit bist du raus aus der Forschung und kannst nie wieder zurück, hieß es.
Aber so schlecht schien die Alternative, in einer Behörde zu arbeiten, nicht zu sein. Das Lebensmittel- und Agraramt, kurz LEAG genannt, war mit Aufgaben an einer Schnittstelle von Verbraucherschutz, Industrie und Landwirtschaft betraut. Eine Tätigkeit im Brennpunkt. Zumindest schien es so, denn die Interessen der Verbraucher, der Lebensmittelindustrie und der Landwirtschaft waren viel mehr von Gegensätzen als von Gemeinsamkeiten geprägt. Endlich eine Möglichkeit, seine Forschungen zum Wohle der Menschen umzusetzen, so stellte Leo sich das vor. An der Universität war ihm doch manches ziemlich abgehoben erschienen. Zu diesem Zeitpunkt ahnte er noch nicht, dass die Politik, von der er meinte, sie nach dem ersten Semester endgültig abgewählt zu haben, ihn in seiner neuen Arbeitswelt wieder einholen würde.
Leos neue Aufgabe am LEAG hatte ihren besonderen Reiz. Es ging um Lebensmittelsicherheit, ein Thema, das alle Menschen gleichermaßen betraf. Leo sollte ein Labor zum Nachweis von erbgutschädigenden Substanzen aufzubauen. Es ging um Stoffe, die potentiell Krebs erzeugen konnten. In einigen Lebensmitteln hatte man solche gefährlichen chemischen Verbindungen schon nachgewiesen, wie das Schimmelpilzgift Aflatoxin in verdorbenen Nüssen. Aber eine noch viel größere Anzahl von Lebensmitteln war in dieser Hinsicht noch gar nicht untersucht.
Arbeit gab es genug und für das LEAG besaß ein solches Labor eine Pilotfunktion. Es war ein Testballon, mit dem Leo Schneider hoch aufsteigen oder tief abstürzen konnte. Er aber sah diese Aufgabe als fachliche Herausforderung, die zu meistern war, denn er hatte Vertrauen in seine wissenschaftlichen Fähigkeiten.
Leo stellte bald fest, dass es gewisse Vorteile hatte, in einer Behörde zu arbeiten. An der Universität war die finanzielle Ausstattung oft knapp bemessen, am LEAG schien man hierfür besser aufgestellt zu sein. Am LEAG gab es auch keine Pflicht zur Abhaltung von Lehrveranstaltungen, die an der Universität obligatorisch waren. Für deren Vorbereitung und Durchführung musste man in jedem Semester viel Zeit und Nerven aufbringen. Somit hatte er am LEAG viel mehr Zeit für die Forschung und mit diesem Gedanken war Leo auch mit seinem zuvor gefassten Entschluss zufrieden. Für die kommenden drei Jahre musste er sich keine finanziellen Sorgen machen. Wenn die Zeit am LEAG zu Ende ging, würde sich schon etwas Neues für ihn finden.
Mit dem Geld, das Leo an der Universität verdiente, konnte er sich eine Dreizimmerwohnung im Berliner Stadtteil Charlottenburg leisten. Es war eine ruhige, eher bürgerliche Gegend, die nicht das Flair eines Szenebezirks wie Kreuzberg hatte. Trotzdem war die Miete günstig, denn die im vierten Stock gelegene Wohnung befand sich in einem noch nicht von der Modernisierung betroffenen Altbau. Zu seiner Wohnung gehörte auch ein Balkon, den Leo mit einem kleinen runden Tisch und zwei Klappstühlen ausgestattet hatte. Von dort hatte er einen ungehinderten Blick über die Dächer der Stadt. Auf der anderen Seite seiner Straße gab es keine Häuser, dort lag die Trasse der Berliner Stadtbahn, deren rotgelbe Züge er alle paar Minuten vorbeifahren sah. Die ab fünf Uhr morgens regelmäßig wiederkehrenden, unverwechselbaren Geräusche der S-Bahn waren der einzige Nachteil, der ihm spontan einfiel, wenn man ihn nach seiner Wohnung fragte. Die Ofenheizung war die Garantie für eine niedrigere Miete und sorgte zudem für regelmäßiges Muskeltraining beim Kohlenschleppen aus dem Keller. Einen Aufzug gab es nicht. Die Vorteile, die Wohnung war schön geschnitten, in einer guten Lage und sehr hell, überwogen diese Kleinigkeiten.
Nur ein paar Schritte von seiner Wohnung entfernt gelangte man in einen Park, in dessen Mitte sich ein kleines Gewässer, Lietzensee genannt, befand. Ein beschaulicher Ort, zu dem es Leo manchmal hinzog, wenn er in seiner Stadtwohnung den Wunsch verspürte, der Natur auf kurzem Weg nahe zu sein.
Im Park am Lietzensee hatte er auch seine Freundin Christine kennengelernt. Es war ein schöner Sommertag gewesen. Christine saß in der Sonne auf einer Bank und war gerade damit beschäftigt, sich eifrig in einem Heft Notizen zu machen. Das Sonnenlicht fiel schräg über ihre halblangen, kastanienbraunen Haare und tauchte ihr Gesicht in einen überirdischen Schein, so dass Leo, als er vorbeilief, einfach auf sie aufmerksam werden musste.
Christine war enttäuscht und daher schlechter Laune. Sie wartete bereits seit einer halben Stunde auf ihre Verabredung und wollte diese Zeit wenigstens mit den letzten Sonnenstrahlen im Park für sich angenehm nutzen. Als Leo vorbeilief, hatte ihr Kugelschreiber gerade seinen letzten Tropfen Tinte vergossen. Christine sah Leo vorbeigehen und fragte, ob er nicht zufällig etwas zum Schreiben bei sich hätte. Leo fand einen Kugelschreiber in seiner Jacke, den er ihr gab. Christine bedankte sich, beugte sich wieder über ihr Heft und schrieb emsig weiter.
„Du kannst ihn gerne behalten.“ Leo wollte seinen Weg fortsetzen, als er sah, wie vertieft sie in ihre Arbeit war. Aber Christine hielt ihn zurück. „Warte, ich muss nur kurz etwas aufschreiben, ich geb ihn dir gleich wieder.“
Sie beugte sich wieder über ihren Block und schrieb, ohne weiter auf ihn zu achten. Leo nahm Christines Bemerkung als Einladung, sich neben sie auf die Bank zu setzen. Als Christine nach ein paar Minuten mit dem Schreiben fertig war, fragte Leo, ob sie hier neu zugezogen wäre. Er hätte sie vorher nie im Park gesehen.
Christine schüttelte den Kopf. Sie erzählte Leo von dem Zufall, der sie in diesen Teil der Stadt geführt hatte. Eigentlich hatte sie in der Herbartstraße, die um den Park herumführte, schon vor einer halben Stunde jemand treffen müssen. Doch ihre Verabredung kam nicht. Später hatte sich das Ganze als eine Verwechslung entpuppt. Ihre Verabredung hatte in der fast gleichnamigen Herbertstraße in Schöneberg vergeblich auf sie gewartet. Aber die Verwechslung der Straßennamen hatte bewirkt, Christine und Leo zusammenzuführen.
Ihr zufälliges Zusammentreffen lag inzwischen fast zwei Jahre zurück, und Leo war in dieser Zeit oft mit Christine am Ufer des Lietzensees spazieren gegangen. Christine war der wichtigste Grund, warum Leo in Berlin bleiben wollte, als seine Stelle an der Uni auslief. Trotzdem war die Beziehung mit Christine nicht einfach und bewegte sich auf einem Zickzackkurs zwischen Nähe und Distanz. So als wüssten beide nicht, ob sie sich auf Dauer binden wollten. Christine behielt ihre kleine Zweizimmerwohnung in Friedenau. Sie sahen sich nur, wenn sie verabredet waren, und nicht regelmäßig wie Menschen, die zusammenwohnten. Beide verbrachten ihre gemeinsame Zeit entweder bei Christine in Friedenau oder bei Leo in Charlottenburg. Dadurch hatten sie zwei Kieze in der Stadt, wo man sie abends anzutreffen konnte. Wenn sie bei Leo waren, gingen sie häufig in die Kneipen und Lokale rund um den nicht weit entfernten Savignyplatz. Waren sie bei Christine, dann besuchten sie die Gegend rund um den Winterfeldplatz in Schöneberg.
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