„Danach habe ich im Namen des Landkreises der Universität in Paris mitgeteilt, dass wir uns hintergangen fühlen und weitere Besuche von Mademoiselle Martin hier unerwünscht sind. Natürlich habe ich keine Antwort von dort bekommen. Soll sie doch ihr Glück in der Bretagne versuchen, die produzieren schließlich auch Cidre!“
„Aber keinen Calvados!“
„Genau!“, gab Leroy zurück, „das wäre ja noch schöner! In der Bretagne brennen sie auch einen Alkohol aus Cidre, den nennen sie Lambig . Haben Sie schon davon gehört?“
Christine schüttelte den Kopf.
„Sehen Sie, das habe ich mir gedacht. Selbst Sie, als Kennerin Frankreichs, haben nichts vom Lambig gehört. Da sehen Sie es. Der Lambig hat gegenüber dem Calvados keine Bedeutung. Dagegen ist unser Calvados ein zertifiziertes, regionales Produkt. Gesetzlich geschützt, sogar durch europäische Verordnungen. Da kann keiner von irgendwoher kommen und versuchen, sein Destillat unter dem Namen Calvados anzubieten.“
„Ja, zum Glück ist das so“, antwortete Christine, die mit ihren Gedanken bereits woanders war. Es wäre doch interessant zu erfahren, was die Chemikerin aus Paris tatsächlich im Calvados gesucht hatte. Wenn es nicht um Betriebsgeheimnisse ging, die sie ausspionieren wollte, was konnten das denn für Giftstoffe sein? Vielleicht handelte es sich um Spritzmittel? Da hörte man doch so einiges. Von Firmen, die tonnenweise Pestizide an die Bauern verteilten, und danach wuchsen auf deren Äckern nur noch die Pflanzen aus dem Saatgut der gleichen Firmen, die die Pestizide herstellten. So schaffte man Abhängigkeiten und hatte außerdem einen Weg gefunden, das gentechnisch manipulierte Saatgut aus eigener Produktion an die Bauern zu verkaufen.
Christine wollte Théodore Leroy nicht weiter nach Sandrine Martin und den Giftstoffen fragen. Es würde ihn nur misstrauisch machen. Rouen lag auf dem Weg nach Paris, von dort ging ihr Rückflug nach Berlin. Sie hatte jetzt alle Stationen für die Kulturreportage zum Calvados abgeklappert. Der Generalrat war die letzte, aber nicht die uninteressanteste Station gewesen. Was sprach dagegen, nach dem Aufenthalt in Rouen einen Zwischenstopp an der Universität Paris-Sud bei Sandrine Martin einzulegen? Vorausgesetzt, die Chemikerin wäre damit einverstanden.
Nachdem Théodore Leroy sie noch über sein Anwesen geführt hatte, musste Christine ihm zweimal versprechen, in ihrer Reportage nicht über die Geschichte mit den angeblichen Giftstoffen im Calvados zu berichten.
„Das beste Beispiel, dass es kompletter Unsinn ist, sind doch wir beide“, hatte Leroy zum Abschied gesagt. „Wir haben Calvados getrunken, und es geht uns doch blendend, nicht wahr, Mademoiselle Christine?“
Nachdem sie sich von Leroy, der immer zudringlicher geworden war, verabschiedet hatte, war Christine nach Rouen gefahren. Dort war sie mit einer französischen Kollegin zum Abendessen verabredet, um die Einzelheiten zu der neuen Sendung zu besprechen.
3. Université Paris-Sud, 16. August 1990
Als sie den Hörer aufgelegt hatte, zitterte Sandrine Martin so sehr, dass sie die Tasse mit dem Kaffee in ihrer Hand nicht stillhalten konnte und einen Teil davon verschüttete. Der dunkle Kranz um ihr linkes Auge, den sie der Faust dieses Dreckskerls zu verdanken hatte, war mittlerweile von Dunkelblau zu einem grünlichen Farbton gewechselt. Danach würde er gelb werden, blasser und irgendwann auch nicht mehr zu sehen sein. Die anderen Verletzungen, die ihr zugefügt worden waren, sah man nicht auf den ersten Blick. Genauso wenig wie die Angst, die sich auf Dauer in ihrem Kopf eingenistet zu haben schien.
Im Institut hatten sich alle mit ihr solidarisiert, als sie sahen, wie übel zugerichtet sie am Montag zurückgekommen war. Aber in den Tagen danach begann sie zu spüren, wie ihre Kollegen allmählich von ihr abrückten. Pierre Duval, der für sie die Untersuchungen der Proben am Massenspektrometer vornehmen sollte, meinte plötzlich, das dafür benötigte LC-MS/MS Gerät wäre für dringendere Projekte reserviert, und vertröstete sie von einer Woche auf die andere.
Dann hatte Professor Fromentin, der Dekan der Fakultät, sie überraschend zu einem Gespräch gebeten. Sandrine, die anfangs noch geglaubt hatte, er würde ihr Projekt weiterhin unterstützen, wurde eines Besseren belehrt. Eugène Fromentin knetete nervös die Finger seiner Hände, als Sandrine in sein Büro kam. Nachdem er sie gebeten hatte, sich doch zu setzen, war er allmählich damit herausgerückt, worum es ihm wirklich ging. Sie sollte mit dem Projekt aufhören, jetzt, nachdem sie bereits sechs Monate Arbeit mit dem Literaturstudium, der Einrichtung des Labors, der Dokumentation und der Probenentnahme verbracht hatte. Alles für die Katz. Dabei war es ursprünglich seine Idee gewesen, sie hatte Gefallen daran gefunden und die ersten Ergebnisse waren vielversprechend. Der Dekan bot ihr an, mit einer neuen Arbeit zu beginnen. Und ihr Stipendium? Sandrine war finanziell darauf angewiesen. Sechs der achtzehn Monate Förderzeit waren bereits verstrichen. Nun sollte sie noch einmal bei null anfangen? Sie hatte geheult, aber Fromentin hatte sich abgewendet und ihr wortlos eine Packung Papiertaschentücher über den Schreibtisch geschoben.
„Sagen Sie mir einen sachlichen Grund, warum ich das Forschungsvorhaben jetzt plötzlich beenden soll?“, hatte Sandrine mit verweinten Augen gefragt.
Der nüchterne Akademiker Fromentin mochte keine Gefühlsausbrüche. Er sah seine Studentin nicht an und ließ seine Augen durch den Raum wandern. Die Sache war ihm sichtlich unangenehm, und er hatte nur erwidert, die Fakultät existiere nicht im luftleeren Raum und sei auf Unterstützung von außen angewiesen. Gewisse Dinge hätten sich eben anders entwickelt, als man ursprünglich gedacht hatte. Das müsse man akzeptieren und mehr könne er dazu nicht sagen. Ob sie denn wirklich ernsthaft glaube, sie könne nach dem Vorfall weiter an diesem Projekt arbeiten? Sandrine Martin sollte sich in der Gegend besser nicht mehr sehen lassen, hatte der Generalrat aus Bonnesource am Telefon betont.
Schließlich hatte ihr der Dekan angeboten, das Projekt eines Doktoranden, der seine Arbeit aus persönlichen Gründen abgebrochen hatte, weiterzuführen. Da gab es bereits Ergebnisse aus den Vorarbeiten, und so wären die sechs Monate ihrer Förderzeit auch nicht verloren.
Sandrine hatte sich Bedenkzeit erbeten und Fromentin entließ sie mit aufmunternden Worten: „Nehmen Sie sich Bedenkzeit, Mademoiselle Martin, aber warten Sie auch nicht zu lange.“ Danach hatte er sie aus der Tür seines Büros sanft, aber bestimmt hinauskomplimentiert.
Sandrines Kaffee war inzwischen kalt geworden. Fromentin war ein Opportunist, aber in einem hatte er recht. Nach dem, was passiert war, konnte sie sich im Pays d’Auge nicht mehr sehen lassen. Zwar hatte sie bereits genug Proben für die Analysen genommen, aber was half das noch? Sie durfte die Proben nicht weiter untersuchen. Wahrscheinlich wäre es sogar besser für sie, die Universität zu wechseln.
Gestern war ein Brief für sie angekommen, ohne Absender. „Wir können es dir auch von hinten besorgen, wenn du nicht Vernunft annimmst, du Schlampe!“, stand auf der Rückseite des Fotos, das sie voller Entsetzen angestarrt hatte. Während dieser schrecklichen Stunden hatte sie nicht mitbekommen, dass jemand ihre schlimmsten Momente fotografisch festgehalten hatte.
Und heute war dieser Anruf gekommen. Von einer Frau, angeblich Journalistin. Im ersten Moment hatte Sandrine gedacht, es wäre vielleicht diejenige, die dabei gewesen war. Sie hatte die Gesichter der Gaffer in der Scheune nicht sehen können, wusste nicht einmal, wie viele es gewesen waren. Nach dem Faustschlag war sie benommen zu Boden gegangen. Als sie wieder zu Bewusstsein gekommen war, hatte man ihr einen Sack über den Kopf gestülpt. Sie lag auf dem Rücken und das Gewicht des Mannes, der sie gerade vergewaltigte, drückte sie erbarmungslos nieder. Sie hatte nicht die Kraft gehabt, sich zu wehren. Auch dann nicht, als er ihr seine Zunge in den Mund drückte und danach die Flasche mit dem Fusel, von dem sie notgedrungen trinken musste. Und das Foto davon hatten sie ihr geschickt. Ihr Kopf war halb von dem des Mannes verdeckt, aber was da gerade stattfand, war auf dem Foto deutlich zu sehen. Und die Drohung auf der Rückseite des Fotos war es auch.
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