Da bereits kein einziger Zug mehr nach dem Reichsinneren fuhr, musste die in letzter Minute kopflos organisierte und hastig durchgeführte Flucht der Familie des späteren Ministers ohne Geschäftsbereich unter den nur denkbar schlechtesten Bedingungen erfolgen.
Es herrschte tiefster Winter und beinahe stündlich drohte die vollständige Abschnürung des Landweges ins Reich durch die Rote Armee, so dass sich ein Großteil der Flüchtenden vollkommen schutzlos den immer heftiger aufflammenden Kampfhandlungen und dem Zorn der unbarmherzig vorstoßenden Russen ausgesetzt sah.
Immer wieder, während sie irgendwo vor Kälte und Schneetreiben in verlassenen Gutshäusern, Gehöften und Feldscheunen verzweifelt Schutz suchten, jammerte Vater Jakob hilflos davon, er habe irgendwo irgendjemanden sagen hören, dass es in diesem Kriege keine Zivilisten gäbe und die deutsche Zivilbevölkerung, gerade jedoch jene von Ostpreußen, der noch das Stigma der Schlacht von Tannenberg anhaftete, daher durch die Russen nicht geschont würde. Sie müssten daher letztendlich alle hilflos auf der Flucht sterben.
Josef, der spätere Minister ohne Geschäftsbereich, träumte sich noch immer, selbst unter jenen dramatischen und bedrohlichen Ereignissen des bitterkalten Januar 1945, ins Heilige Land!
Er sah sich als jenen Josef, der den Mordversuch seiner Brüder in einer Zisterne überlebt hatte und der nun nicht inmitten eines zerlumpten, frierenden und zunehmend verzweifelten Flüchtlingstrecks Entwurzelter und Heimatloser gen Westen zog, sondern er träumte sich in die Rolle jenes Josefs, den seine Brüder weder in der Zisterne ertränken, noch verkaufen konnten. Er wähnte sich inmitten einer ihn aus Drangsal rettenden Karawane, die ihn nach Ägyptenland bringen würde, damit er dort als gottesfürchtiger Diener im Hause des hohen Beamten Potiphar arbeiten konnte, wo der Allmächtige selbst dafür Sorge tragen würde, dass ihm alles gelänge, was er begann. So würde er schließlich in Ägyptenland wie jener biblische Namensvetter wichtige Ämter gewinnen. So das Amt des Traumdeuters und des Obermundschenks, ehe er endlich zum Vizekönig von Ägypten ernannt würde, um die Tochter des Priesters von On zu heiraten.
Gerade noch rechtzeitig genug wälzte sich jener erbärmliche Flüchtlingstreck, in welchem der junge Josef mit seinen Eltern nach Westen mit schwamm, wie quellendes Treibholz mit der Flut, über den Landweg ins Reich.
Gerade noch rechtzeitig vor der fürchterlich wütenden Roten Armee, die mit ingrimmiger Wut die kümmerlichen und ausgedünnten Linien der erschöpften und resignierten deutschen Verteidiger in der Schlacht um Ostpreußen vollends zertrümmerte, ehe sie schließlich bei Elbing das Frische Haff erreichte und damit den Landweg ins Reich vollständig abschnitt.
Die großen Flüsse, die aus dem Landesinneren in das Frische Haff mündeten, Nogat und Pregel, waren dick zugefroren, ebenso das Frische Haff selbst.
Und während Josefs Familie nunmehr längst viel weiter westlich und beinahe schon in der trügerischen Sicherheit des inneren Reichsgebietes waren, hörten sie von jenen Verzweifelten ganz im Osten, denen nun jeder Landweg nach Westen verlegt worden war.
Da der Russe nun siegreich in Elbing stand, zogen jene Unglücklichen zu Zehntausenden über das dick zugefrorene Frische Haff gen Westen. Unzählige erfroren dabei, starken bei Luftangriffen der Roten Armee durch das Feuer der Bordwaffen oder infolge gezielter Bombardierungen der Eisdecke.
Dennoch verhieß allein die Frische Nehrung ihnen Rettung, denn nur auf diesem Wege konnten sie dem Russen entkommen, um über das zugefrorene Eis der Nehrung endlich Danzig zu erreichen.
Ebenso wie Küstrin, Kolberg und Gotenhafen, war auch Danzig zu diesem Zeitpunkt noch in deutscher Hand. Und so wälzten sich Trecks, bestehend aus Deutschen und aus den einheimischen Kaschuben, zitternd vor Kälte und Todesangst, in Richtung auf Danzig, das erst im März 1945 von der Roten Armee und von polnischen Einheiten eingeschlossen werden konnte.
Noch trotzte die uralte Stadt, getreu ihrem Wahlspruch Nec temere, nec timide (Weder unbesonnen, noch furchtsam), dem Ansturm.
Noch wälzten sich die Trecks der Frierenden, Hungernden und Verzweifelten, vollkommen schutzlos und unter dem beinahe ständigen Beschuss der russischen Jagdflugzeuge, auf die Stadt zu, während jene Anderen, immer noch in den Häfen der Ostsee, vor allem jedoch in Pillau, ausharrten und hofften, darauf, dass Großadmiral Dönitz endlich die Schiffe und Boote der Kriegsmarine schicken würde, um sie zu retten!
Josef aber, der spätere Minister ohne Geschäftsbereich, war zu dieser Zeit mit seinen Eltern längst in Sicherheit!
Sie hatten auf abenteuerliche Weise, zwar hungernd und frierend, aber an Leib und Seele unbeschadet, das sandige Land Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin erreicht, wo die Verwandten lebten.
Noch immer lagen die Föhrenwälder an der Peripherie der zerstörten, aber vorerst noch nicht durch den Feind besetzten Metropole, finster und nahezu märchenhaft unberührt.
Noch immer lagen die zahlreichen kleinen Fließgewässer und Seen des Stadtgebietes unter dem schützenden Eis jenes harten Winters 1944/45.
Noch immer führten die großen Flüsse des Stadtgebietes, die Spree, die Havel und die Dahme, ihre Wasser ungehindert zum Meer, ohne von feindlichen Einheiten forciert zu werden.
Die massenhaften Deportierungen der Berliner Juden in den Osten hatten längst aufgehört und seit jenem ersten nächtlichen Angriff britischer Bomber auf die Metropole, der im Herbst 1940 stattfand, hatte sich die Intensität der Bombardierungen zu derartiger Wut gesteigert, dass nunmehr nahezu die Hälfte aller Gebäude der Hauptstadt zerstört war.
Nur annähernd ein kümmerliches Viertel aller einstigen Wohnungen der Reichshauptstadt war bis zu diesem Zeitpunkt intakt geblieben und die 226 Brücken Berlins waren bis auf 98 verbliebene nahezu vollkommen zerstört worden.
Experten hatten errechnet, dass sämtliche Trümmer und sämtlicher Schutt, den man in Berlin im Frühjahr 1945 vorfand, ausgereicht hätten, um einen Damm von 35 Metern Höhe bis nach der Stadt Dortmund zu errichten.
Josef, der spätere Minister ohne Geschäftsbereich, empfand die in Trümmern liegende Reichshauptstadt, wie sein biblischer Namensvetter das reich an landwirtschaftlichen Erträgen gewesene Ägypten während der von ihm geweissagten sieben trostlosen Jahre der völligen Dürre empfunden haben mochte.
Es war eine gigantische Ödnis und Wüste. Eine Trümmerlandschaft, beinahe jener apokalyptischen Umgebung vergleichbar, wie sie die Amerikaner nur wenig später in den Städten Hiroshima und Nagasaki hinterließen. Sie barg eine moderne westeuropäische Zivilisation, die auf das Niveau steinzeitlicher Sammler und Jäger zurück gebombt worden war. Sammler und Jäger, die in zertrümmerten Höhlen hausten und in Lumpen gekleidet waren.
Sammler und Jäger, die tatsächlich die Ankunft des Antichristen auf Erden in Gestalt entmenschlichter russischer Soldatenhorden erwarteten.
Und wie der biblische Josef beim Auszug nach Ägypten seine Lehren gezogen hatte, so hatte auch Josef, der spätere Minister ohne Geschäftsbereich, bei der winterlichen Flucht aus Ostpreußen seine Lehren fürs Leben gezogen.
Die eine Lehre war die Gewissheit, ein außerordentlicher Mann zu sein, eine Art biblischer Messias, dem daher eine besonders herausragende Stellung innerhalb der menschlichen Gesellschaft zustand. Die andere Lehre fußte jedoch in der Erkenntnis, dass man alles fürchten und hassen musste, was aus dem Osten kam und mit dem roten Banner den Anspruch vor sich her trug, die Menschen von der Ausbeutung durch ihresgleichen endgültig zu befreien.
Josef, der spätere Minister ohne Geschäftsbereich, war zu diesem Zeitpunkt mit seiner Familie nichts weiter als ein üblicher Bestandteil jenes menschlichen Strandgutes, welches der verlorene Krieg in die Trümmeroase der Hauptstadt getrieben hatte.
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