Im Grunde verabscheute er sein Volk, von dem er meinte, es habe sich zum Knecht und Büttel zweier Diktaturen in Folge machen lassen. Erst zum Büttel der Hitlerschen Diktatur und dann zum Büttel Stalins. Ein solches Volk war nicht nur dumm und berechnend, es war vor allem vollkommen amoralisch und ohne jedweden Ehrbegriff, wie er fand. Es handelte aus reinem Opportunismus, indem es sich sofort und bereitwillig jeder neuen Art von Macht andiente.
Es war gefährlich, sich der wechselnden Gunst eines solchen Pöbelhaufens anzuvertrauen und darauf seine eigene wirtschaftliche Zukunft zu gründen! Andererseits war es jedoch auch einfach, denn man brauchte nur auf die beinahe stündlich wechselnden Forderungen des Volkes zu lauschen, stets noch eins drauf zu setzen und diese Meinung dann mit Vehemenz und lautstark in der Öffentlichkeit zu vertreten. Schon war der Volkstribun oder der basisdemokratische Politiker geboren!
Der Minister ohne Geschäftsbereich hatte also beschlossen, dass es ihm zustehen würde, ein wichtiger Mann in der deutschen Geschichte zu werden und dass dies am einfachsten über den Weg des Volkstribuns zu bewerkstelligen sei. Also schickte er sich an, ein solcher Volkstribun zu werden! Ein Mann wie Luther, den Willen des Volkes in der rechten und den protestantischen Glauben als Waffe in der linken Faust!
Mitunter plagten ihn deswegen Ansätze eines schlechten Gewissens. Er sagte sich, dies aber nur in ganz wenigen lichten Momenten, dass er im Grunde doch eitel sei. Aus seiner theologischen Ausbildung wusste er nämlich noch, dass Eitelkeit eine Sünde darstellte. Sie war deswegen eine Sünde, weil sie das Denken des Menschen von Gott ab- und stattdessen zum eigenen Körper und zu dessen Äußerlichkeiten hinlenkte.
Aber dann beruhigte er sich sogleich mit der Erkenntnis, dass er schließlich ein protestantischer und kein katholischer Theologe sei. Rechnete schließlich lediglich die katholische Theologie die Eitelkeit als Superbia zu den Haupt- oder Todsünden des Menschen, den peccati mortiferi, zu denen weiterhin Avaritia, Luxuria, Ira, Gula, Invidia und Acedia, nämlich Habgier, Wollust, Selbstsucht, Rachsucht, Missgunst und Ignoranz gezählt wurden.
Im Grunde war er jetzt, angesichts der Wende, sogar ganz besonders glücklich darüber, dass er Protestant und nicht Katholik war. Hätte die Wende in Bayern oder in Baden-Württemberg stattgefunden, so wäre es sicherlich für ihn vorteilhafter gewesen, Katholik zu sein. Nicht aber hier, in der Mitte Deutschlands, der Heimat und Zufluchtsstätte Luthers, wo man das protestantische Bekenntnis noch immer mit Rechtschaffenheit, Opposition gegen die kommunistische Obrigkeit und mit dem Ideal der lange verpönten bürgerlichen Lebensformen a la Graf Stauffenberg in Verbindung brachte. Nein, daran konnte kein Zweifel mehr bestehen, die letzten Monate und Jahre hatten es einmal mehr eindrucksvoll belegt: Bot früher, vor der politischen Wende, das in rotes Kunstleder gebundene SED-Parteibuch die Gewähr für Karriere und Aufstieg, so war in der neuen Zeit mit dem protestantischen Glaubensbekenntnis nunmehr dafür eine wichtige Voraussetzung geschaffen. Zumal, wenn man sie mit ein wenig Opfergeruch, ob nun gerechtfertigt oder nicht und einigen Beziehungen zu wichtigen und einflussreichen Personen aus dem Westen der Republik, anreichern und würzen konnte. Eine interessante Mischung, wie er fand und hoffentlich genau die richtige Art von Tinte, um damit den eigenen Namenszug mit fester Hand und auf ewig ins Buch der Geschichte eintragen zu können!
Mitunter wurde es allerdings schwierig, den Menschen seines Umfeldes begreiflich zu machen, dass Forderungen, die er selbst an sein Umfeld stellte, für ihn nicht gelten durften und dass er selbst, der pausenlos kritisierte und schwadronierte, grundsätzlich außerhalb jeder Art von Kritik stand. Er hatte gelegentlich sogar Angst, die Menschen könnten dies erkennen und ihn, den Angreifer, deswegen in ihrer rigorosen Aufbruchsstimmung selbst angreifen, ihn hinweg fegen, so wie die Französische Revolution einst ihre eigenen Anführer und Köpfe hinweg gefegt und guillotiniert hatte. Aber zu seiner Erleichterung erkannte er auch, dass der deutsche Charakter anders war. Er war eher geneigt, sich der Macht zu beugen und der Charakter des deutschen Volkes zur Macht ließ sich wohl am ehesten mit einem Gleichnis von Konfuzius beschreiben, wonach sich das Gras stets dem über es hinweg fegenden Wind beugte. Und die Staatsmacht war nun einmal der Wind in Deutschland und das Volk war das Gras. Das war vor der politischen Wende so gewesen und es würde zweifellos nach der politischen Wende noch ebenso sein. Von dieser Tatsache konnte man das Volk jedoch ablenken, indem man seinen Zorn bündelte, ihn kanalisierte und lenkte. Man musste ihm nur vermitteln, dass es während der 40 Jahre DDR um sein Recht auf Reisen, auf Wohlstand, auf Bananen und Westgeld betrogen worden war. Und zwar von einigen wenigen alten Männern und jenen Organisationen, die sie lenkten und steuerten. Besonders ließ sich da der Hass auf das Ministerium für Staatssicherheit instrumentalisieren! Wer damit beschäftigt war, Menschen aufzuspüren, die ihn einst bespitzelt hatten, erregte sich möglicherweise weniger darüber, dass er entlassen wurde, weil sein Betrieb gerade abgewickelt worden war. Innenpolitik bestand stets auch in der Kunst, Nebenkriegsschauplätze zu eröffnen, auf denen man dem Volke Schuldige zum Steinigen präsentieren konnte, damit man ihm unterdessen unbemerkt das Fell über die Ohren ziehen durfte.
Wer sich schuldig fühlte oder damit rechnen musste, sich möglicherweise schuldig fühlen zu müssen, der muckte nicht auf und dessen Gegenwehr fiel weniger selbstbewusst und offensiv aus, wenn man ihm Hemd und Hose wegnahm! Schließlich durfte sich glücklich schätzen, wer nicht gelyncht, sondern am Leben gelassen wurde!
Ja, auch dies war ein weites Feld gewesen, ein Thema über welches er erhitzt debattiert hatte! Das bestraft und abgerechnet werden musste, stand außer Frage. Es ging lediglich um die Diskussion, wie weit dabei zugehen zu war und wie konkret vorgegangen werden sollte. Wenn er sich also zum Wortführer jener aufgeheizten Stimmen und Stimmungen aus dem Volke machen würde, die Rache und Bestrafung für tatsächlich oder vorgeblich erlittenes Unrecht forderten, wenn er sich an die Spitze eines noch zu schaffenden Revolutionstribunales stellen und dem Volke dasjenige Blut geben würde, nach dem es gierig forderte, dann würde er selbst zum Danton, zum Martial Joseph Armand Herman, zum Antoine Quentin Fouquier-Tinville der Moderne und damit unsterblich werden!
In jenen Jahren, als er noch ein einfacher und bedeutungsloser Jugendpfarrer gewesen war, den die Öffentlichkeit noch nicht kannte und beachtete, hatte sich der Minister ohne Geschäftsbereich einen strotzigen und struppigen Vollbart wachsen lassen, so wie einst Karl Marx und Friedrich Engels.
Er kannte weder die Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels, keine einzige Zeile davon, die er beide allein aufgrund der Tatsache verabscheute, weil sie das verhasste kommunistische Regime beständig zu seiner Legitimierung heran zog. Aber wie jene ließ er sein Gesichtshaar üppig wuchern und sprießen, um dadurch wie sie seine Verachtung des herrschenden Establishments zum Ausdruck zu bringen.
Glatt rasiert war nämlich in jenen Jahren vornehmlich die Staatsmacht gewesen. Glatt rasiert waren Honecker und Mielke und Ihresgleichen. Glatt rasiert waren die Parteifunktionäre und die Bonzen aller Hierarchiestufen, an deren Revers das Bonbon, das Parteiabzeichen, blitzte wie eine Eintrittskarte in die bessere Gesellschaft der DDR. Glatt rasiert waren die Vopos, die Stasis, die Offiziere, die Schließer in den Gefängnissen, die Spitzel und Aufpasser und die FDJ-ler, die die Fahnen und Fackeln zu den Republikgeburtstagen an der hölzernen Tribüne in der Karl-Marx-Allee mit all den winkenden Greisen um den vertrottelten und autoritären Honecker vorbei trugen!
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