Bei Qualitätsproblemen konnte ich nichts sagen, Lieferverzüge waren von den Kunden akzeptiert. Kein Mail, kein Schreiben, keine Dienstreise, kein Kundenbesuch. Was also tun? Auf überraschende Vertriebserfolge warten? Ich war völlig überflüssig. „Eine Puppenküche“ sage ich zu Sylvia, wenn sie nicht versteht, warum ich abends nichts zu erzählen habe.
Nach einer Woche fragen der Meister und der Entwicklungsleiter, ob sie in der nächsten Woche einen Termin haben könnten. Endlich das Gefühl für irgendetwas gut zu sein. Also wollen sie auch gleich? Überrumpelt, dann umständlich, schließlich endlich die Frage: „Dürfen wir weiterhin direkt miteinander sprechen oder muss jetzt alles über Sie laufen?“ Also wieder kein Problem, nicht einmal eine Aufgabe, weiterhin nichts zu für mich zu tun.
Nach vier Wochen kündige ich meiner Sekretärin, damit wenigstens nur einer nichts zu tun hat. „Und wer hebt jetzt das Telefon ab?“ werde ich gefragt. Bisher hatte es gerade drei Anrufe gegeben.
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Dass Andreas wieder Eiweiß aß, erfuhren wir nebenbei und indirekt: Er musste sein Zahnfleisch kräftigen, weil alle Zähne zu wackeln begonnen hatten.
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Auch wenn es keiner ausspricht: Es gibt nichts Schöneres als Rache. Wer das leugnet, hat es nie getan. Hat nicht aus allen Perspektiven akribisch die schwächste Stelle des Opfers ausgekundschaftet, hat sich nicht mit kindlicher Vorfreude die tausend Möglichkeiten des Zuschlagens ausgemalt, hat sich nicht an den geplanten Schmerzen des Opfers aufgerichtet, sich seine unzähligen Tode im Detail ausgemalt, hat sich keinen minutiösen Plan zurechtgelegt und die Schlinge zugezogen, hat nicht voll Stolz das eigene unvergängliche Werk bewundert, unvergänglich zumindest für das Opfer. Wenn Glück das Verschmelzen mit einem Ziel ist, dann ist Rache das Modell.
Wollten also nicht alle unabhängig von den Aktoren meines alten Arbeitgebers werden? Schon bei meinen Bewerbungen hatte ich das Thema bei den Kunden meiner alten Firma benützt um noch mehr Wert zu haben. Zugelassen habe ich den Gedanken aber erst als Anästhesie meiner Bedeutungslosigkeit, meiner Unsicherheit, der Langeweile. Tatsächlich wollten zwei der 3 Kunden an das Wissen herankommen und schlossen Beraterverträge mit mir ab. 8 Jahre sollte es dauern, bis die volle Wirkung zu sehen war. Dann hatte ich der alten Firma zerstört, was ich ihr damals unbelohnt gegeben hatte: 120 Millionen Jahresumsatz, 40 Millionen Ergebnis. Soviel zu meiner Technikkompetenz. Es störte mich auch nicht, dass keiner den Zusammenhang herstellen konnte.
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Es hätte mir schon sehr wehgetan, wenn das Ergebnis in der alten Firma nach meinem Abgang schlagartig sehr viel besser geworden wäre. Es hätte mein Versagen für alle sichtbar endgültig bestätigt, hätte meine Flucht in die Bedeutungslosigkeit der neuen Stelle erklärt. Eine gewisse Verbesserung würde ich ertragen müssen, schließlich wurde die Konjunktur besser, die von mir begonnen Maßnahmen würden nützen und natürlich würde man mein letztes Jahr schlechter, Hinterlaß´ erstes Jahr besser darstellen, das konnte ich mir noch wenigstens selbst argumentieren. Aber hoffentlich nicht dreimal so gut! Denn das war die Zahl, die er mir immer vorgehalten hatte: Nicht 20 Millionen Ergebnis, 60 sollten es sein, zumindest 50. Wenn er sie jetzt sofort erreichen würde, dann hätte ich es dokumentiert: Unfähig.
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Mein erster Urlaub in der neuen Firma: Yucatan ohne Touristen, denn die waren vor Hurrikan Wilma geflüchtet, obwohl nur die Gegend um Cancun betroffen war. Ungewohnt: Zeit für die Urlaubsplanung, nicht im letzten Moment zum Flughafen, kein Vorwurf wegen drei Wochen Abwesenheit, keine tägliche Kontrolle, ob noch keine Hiobsbotschaft in der Firma wartete. Wirklich Urlaub.
Und noch dazu ein kleines Erfolgserlebnis: Erstmals ein positives Monatsergebnis.
Wir waren vor der Hitze in den klimatisierten Computerraum des Hotels geflüchtet und so lag Campeche wie hingemalt viele Stockwerke und hinter einer getönten Glaswand unter uns, die vielen Farben der Kolonialgebäude, die Plaza, unter deren Bäumen wir den langsamen Verlauf der Mittagsstunden erahnen konnten, die zwei Kirchtürme auf der einen Seite, die spiegelnde Hitze über dem Asphalt der Küstenstraße vor dem perfekten Türkis der Karibik auf der gegenüberliegenden. So irreal, dass ich am liebsten wie neu geschaffen hinausgelaufen wäre, wären wir nicht gerade von Temperatur und Feuchtigkeit zur Zeitlupe verzögert hereingekommen.
Nachrichten im Internet also, Österreich, International, Sport, Wirtschaft, schließlich den Namen meiner alten Firma und dann: Nicht 60 Millionen, nicht 50 hatte Hinterlaß gemacht, nicht einmal meine 20. Ganze 10. Und sie hatten ihn hinausgeworfen. „Neue Aufgaben außerhalb der Firma“ wie nur für mich geschrieben.
Mein Leben hatte neu begonnen. Das Loch in der Biographie war keines mehr, ich musste diese Jahre nicht mehr verstecken.
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Warum können andere mit sich zufrieden sein, oft sogar stolz, obwohl sie doch wissen müssen, dass sie völlig irrelevant sind? Dass der Welt egal ist, was sie denken oder tun? Dass das, worauf sie stolz sind, dass sie gut fußballspielen oder Abteilungsleiter sind, tausende andere wahrscheinlich besser machen? Dass ihre Freunde sie nur anerkennen, weil sie jemanden brauchen, von dem sie umgekehrt auch anerkannt werden? Dass sie einfach nur einer von vielen sind?
Vor allem jedoch: Warum fällt es mir so schwer das zu ertragen?
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Andreas musste gegen viele Bedrohungen ankämpfen. Da war der Fernseher, der immer eingeschaltet werden wollte und ihm dann die Zeit vernichtete. Der Kühlschrank, der ihn nicht nur mit seinen plötzlichen Schaltgeräuschen aus der mühsam gewonnenen Konzentration riss, sondern ständig daran erinnerte, dass er gefüllt sein und ihn essen lassen sollte. Die Kaffeemaschine, die zu einem Morgenkaffee, zu Munterkeit, zu einem geregelten Tagesablauf drängte. Der Toaster, der einforderte wieder Brot zu kaufen. Viele Packungen Schokolade, die lockten und verführten, wo er aber wusste, dass sie dann seine einzige Nahrung sein würden. Großpackungen von Süßstoff, die ihn erst richtig hungrig machen würden.
Die Eltern halfen ihm: Sie kauften ihm die Geräte ab, zwar hatten sie bereits in jedem Zimmer einen Fernseher und natürlich auch Kühlschrank, Toaster und Kaffeemaschine, aber schließlich war alles fast ungebraucht und sollte er zu seinen ganzen Schwierigkeiten auch noch einen finanziellen Schaden haben?
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„Nur Vitamine“ verteidigte ihn Mutter, als ich zufällig erfuhr, dass Andreas jetzt wieder Präparate im Gewichthebeverein kaufte. Sie würden diese Vitamintabletten inzwischen ebenfalls nehmen, denn er hatte ihnen einen Artikel gezeigt, in dem die allgemeine positive Wirkung und der Schutz bei vielen Krankheiten genau erklärt wurde. Da half es auch nichts Ihnen zu sagen, dass die Tabletten im besten Fall wirkungslos wären. Andreas hatte sich damit ausführlich beschäftigt! Ich hätte auf mein studiertes Wissen hinweisen können, aber das hätte nichts geändert. Nicht einmal, als ich ihnen später zeigen sollte, dass der Händler bereits verurteilt worden war, hörten sie damit auf. Andreas versteht von diesen Dingen einfach mehr.
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Das erste Jahr in der neuen Firma ist zu Ende und zum ersten Mal überhaupt ist das Geschäftsergebnis positiv. Habe ich überhaupt etwas dazu beigetragen?
Tatsächlich bin ich zwar ständig durch die Fertigung und die Büros gegangen, habe jeden angesprochen, wie es bei ihm so laufe, habe ein paar Worte zur Situation gesagt und dabei darauf geachtet mir meine Ahnungslosigkeit nicht anmerken zu lassen. Das Ergebnis habe ich erklärt und worauf es ankommt. Einmal die Woche habe ich ein Jour Fix abgehalten und versucht ein Gespräch über die Themen in Gang zu bringen, die mir kritisch vorgekommen sind, die ich aber selbst nicht einmal richtig verstanden habe, Gespräche also, denen ich selbst meist nicht wirklich folgen konnte.
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