1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Was danach geschah, überraschte ihn und vor allem mich selbst. Beim ersten Besuch vor Ort gebe ich dem Team Recht, dass ihnen externe Berater nichts nützen werden. Ich schlage stattdessen vor die produzierte Stückzahl und die Ausbeute wöchentlich für alle sichtbar darzustellen und danach gemeinsam über das Ergebnis zu diskutieren. Sie stimmen zu und das war schon fast mein gesamter Beitrag. Jedes Mal, wenn ich komme, zeigen sie mir, dass sie sich wieder verbessert haben. Natürlich höre ich ihnen zu, lasse mir Ideen schildern und kommentiere, was ich für besonders gut und was ich für schlecht oder auch nur unlogisch halte. Ganz sicher nichts Besonderes. Trotzdem werden sie immer besser. Warum ich nicht bei ihnen Geschäftsführer sein wolle, bedrängten sie zuerst mich, dann den Eigentümer. „Sie brauchen mich doch gar nicht mehr“ zeigte ich ihm, dass sie innerhalb weniger Monate sogar die vermeintlich utopischsten Ziele übertroffen hatten. Er konnte nicht widersprechen, wollte auch nicht. Wie viel Glück kann man eigentlich haben?
Verdient hatte ich mir das sicher nicht.
*
Auf den ersten Blick hätte man kein Leben mehr in ihr vermutet: Die für das maskenhafte Gesicht plötzlich zu großen Augen, die Adern auf den pergamentartigen Handrücken, die leere, welke Haut, wo einmal die Oberarme gewesen waren, der immer gleiche ausgewaschene Pullover über der immer noch großen, aber nicht mehr symmetrischen Brust, der Rücken nicht gerade, die Haare auch nach dem Friseur nicht anders.
Aber noch immer Kontaktlinsen als Triumph des Willens über die Brille, selbst wenn sie damit noch so schlecht sah. Sie hatte auch diese Operation überstanden, sie hatte erkämpft, dass der künstliche Darmausgang zurückoperiert wurde, auch wenn sie dafür stündlich auf die Toilette musste, auch wenn sie sich vor Bauchkrämpfen krümmte. Wieder überlebt! Sie wusste zwar, dass sie schnell und viel vergaß, aber sie merkte nicht, wie jedes Gespräch zum Irrlauf wurde, weil sie das Thema verlor und mit einem ganz anderen zurückkehrte.
Außer bei Andreas. Er war das Thema, das die Reste ihres Lebens zusammenhielt, das ihrer Stimme die Willenskraft einer vergangen Zeit verlieh.
„Was ist das für eine Führungskraft, wenn er nicht zulassen kann, dass seine Mitarbeiter mehr wissen als er selbst“ verflüchtigten sich hier ihre Gedanken nicht. Die klassische Strömungslehre war an ihrem Ende angelangt, es wurde seit ewigen Zeiten nichts mehr publiziert, was von Bedeutung gewesen wäre, es gab kein Gebiet mehr, an dem Andreas forschen konnte. Sollte er einfach untätig und nichtsnutzig herumsitzen wie die anderen? Der einzige Ausweg waren neue mathematische Ansätze und der Professor sollte doch begeistert sein, dass Andreas bereit wäre Mathematik zu studieren. Wer sonst würde sich das antun? Stattdessen schikaniert er ihn, eigentlich ist es sogar Mobbing, er muss genau dann in den Übungen sein, wenn er eigentlich in der Algebravorlesung sitzen sollte. Ihm wurde als einziger ein neuer Computer verweigert, obwohl gerade er ihn für die Lösung der Rechnungen am dringendsten braucht. Er hat gemerkt, dass er ihm schon nach wenigen Semestern überlegen ist und jetzt möchte mit aller Gewalt verhindern, dass Andreas sein Studium fortsetzen oder sogar beenden kann. Sogar seine Kollegen hat er schon gegen ihn aufgehetzt, behauptet, dass sie die Arbeit zusätzlich machen müssten, weil Andreas nicht am Institut, sondern beim Studium sei. Dabei hätten sie doch alle einen Vorteil, wenn einer Mathematik versteht.
Vieles will von mir gesagt werden, dass sie ja tatsächlich nur zwei Semester vereinbart hatten, dass es nicht eines ganzen Studiums bedarf um die Voraussetzungen für die Berechnungen der Strömungen zu erlangen, dass er keine Prüfungen ablegen müsste. Dass er nicht erwarten könnte sich eine plötzliche Leidenschaft als Beruf bezahlen zu lassen, wenn diese nicht in diesem Umfang notwendig wäre. Aber vor mir dieser Rest des Köpers, der meine Mutter war, über den Willenskraft und Überzeugung weit hinausgewachsen waren, ihr vielleicht letztes Aufbäumen, selbst wenn es nicht für mich war, selbst wenn es falsch war. Irgendwann dann doch, weil sie ja nicht nachlässt und meine Zustimmung immer wieder einfordert „In einer Firma ginge es nicht so“ und damit war jetzt auch ich Feind.
„Dafür verdient er ja auch viel weniger, obwohl er das viel schwerere Studium gehabt hat“ und dann noch schmerzhafter, weil sie jetzt genau wusste, wo es weh tun würde „Dass Du nicht als Führungskraft geeignet warst, hast Du ja gesehen“ Für mein Schicksal war ich ganz alleine verantwortlich, während es bei Andreas immer die anderen waren. Sylvia steht auf und will gehen, während ich noch auf dem Sofa festklebe. Hat sie das Recht, nur weil sie überlebt hat? Andererseits: Darf ich genau das zerstören, was sie ins Leben zurückgeholt hat?
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Andreas kam nie zu den Eltern, wenn auch nur die Chance bestand, dass Sylvia und ich kommen würden. Er wusste genau, was ich über diesen Kleinkrieg gegen den Professor und mittlerweile auch schon Rektor bezüglich der Freiheit der Forschung, sagen würde.
Beim einzigen Zusammentreffen behandelte er Mutter schlecht: Schrie sie an, wenn sie zu langsam war, ließ sich von ihr die Sachen bringen und schließlich lachte er über ihre neue Vergesslichkeit, schließlich wusste auch er, wo er verletzen konnte „Aber sei froh, dass von Dir ohnehin keiner mehr etwas erwartet, sonst wäre es schlimmer“ wenn sie darunter litt und hoffte, dass es nur die Medikamente seien.
„Da fehlt Dir so ziemlich alles, damit Du das überhaupt verstehst“ wenn er nur den Hauch eines Zweifels an seinen Behauptungen vermutete.
Sie reagierte mit dem einzigen Mittel, das ihr geblieben war: Noch mehr Hingabe.
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„Ist dort nicht Bürgerkrieg?“ „Ist das nicht sehr anstrengend?“ „Ich würde mich das nie trauen!“ war sicher auch ein Grund im Urlaub ausgerechnet nach Mosambik zu reisen. Das Staunen und die Bewunderung bestätigten mir, dass ich nicht wie die anderen war. Dass ich noch immer mehr Mut und Energie als die anderen hatte. Dass ich nicht Durchschnitt war. Das konnte ich mir nicht anmerken lassen und erzählte deshalb von Simbabwe, fünfzehn Jahre davor, und von Venezuela, wo ich auch kaum Touristen und schon gar keine alleinreisenden getroffen hatte und wusste doch gleichzeitig, dass ich diese Momente der Überlegenheit nach der Rückkehr noch viel mehr als jetzt genießen würde.
Meine Anspannung versuchte ich zu verstecken, auch vor Sylvia und vor allem vor mir selbst. Musste ich mir das wirklich antun? Drei Wochen vor der Abreise erinnerte mich eine Dienstreise in die USA daran, wie angenehm hier der Urlaub im Vorjahr gewesen war: Unkompliziert, ungefährlich, planbar, sauber. Wie war ich nur auf diese Idee gekommen?
Schon im Flugzeug hatte ich die ganze Zeit die ersten Meilensteine vor Augen: Einreise, Gepäck, Leihwagenanmietung, Geldwechsel, Großraum Johannesburg verlassen. Nicht schwierig, aber besser es ist vorbei. Anschließend eine ruhige Phase: Autofahren und eine saubere Übernachtung noch in Südafrika. Malaria Tabletten kaufen. Aber dann: Grenze, hinein nach Maputo, Hotel suchen.
Würde die Grenze so chaotisch und gefährlich sein wie damals die zwischen Simbabwe und Südafrika? Oder sogar noch schlimmer, weil es vom reichsten direkt in das ärmste Land der Region geht? In jedem Moment aufpassen, was passiert. Ich spüre den Blutdruck durch den Kopf sausen, registriere jede Bewegung, ständig der Blick, wer sich nähert. Ob jemand zu unserem Auto geht. Das Ausreisformular muss ich zweimal ausfüllen, weil ich die Zeile verwechsle. Die Hand stütze ich ab um weniger zu zittern.
Draußen steht unser Auto allein friedlich in der Sonne. Nur schnell raus aus dem Container, in dem die gelangweilten Südafrikaner kaum kontrollierend die ausgefüllten Blätter einsammeln. Es ist Sonntag, zum Glück also nicht allzu viel Betrieb, vielleicht zehn Autos in der Schlange, keine Lastwagen und vor allem keine Fußgänger, die den Überblick sonst am schwierigsten machen. „In vier Stunden“ stelle ich mir vor, wie ich im Hotelzimmer sitze und diese Etappe überstanden habe. Und zucke zusammen, als plötzlich ein Schwarzer ganz knapp hinter mir steht, den ich davor nicht gesehen hatte. Er streckt mir den Kugelschreiber entgegen, den ich im Container liegengelassen habe. Lachen würden wir darüber erst am Abend.
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