„Um seine Sachen rechnen zu können muss er aber nicht gleich ein ganzes Studium machen“ stattdessen, aber das reicht natürlich auch nicht. „Natürlich, was verstehst Du schon davon?“ und so geht es weiter und weiter. Der Institutsleiter hat kein Recht ihm etwas zu befehlen, nicht Andreas.
„Ich würde es nicht auf einen solchen Kampf ankommen lassen“ versuche ich wenigstens diese Sinnlosigkeit zu beenden, glaubte er wirklich, er würde sich gegen den Uni-Apparat durchsetzen?, nur um „Du brauchst gar nicht reden, was war bei Dir in Malaga?“ vorgeworfen zu bekommen.
„Genau deshalb, ich kenne die Konsequenzen“, während ihre Reflexe schon einen noch wunderen Punkt gefunden hatten. „Und was hat Dir Dein Nachgeben genützt? Dass Du dich so hast demütigen lassen?“ Wenigstens sagte sie nicht, dass ich mich aufgegeben hatte, dass ich mich unter meinen Möglichkeiten arrangiert hatte, nur weil ich den Kampf nicht gekämpft hatte, der gekämpft werden muss, den sie sicher gewonnen hätte. Wenigstens das sagte sie nicht.
Hätte ich antworten sollen, dass ich wenigstens nicht allen anderen vorgejammert habe? Dass ich ja nicht auf einer unkündbaren Beamtenstelle gesessen bin? Dass ich nicht in Anspruch genommen hätte, dass mich andere versorgen würden?
Und so war meine fehlende Antwort ihr Sieg. Ja, er musste Mathematik studieren. Nein, er durfte nicht nachgeben. Sich nichts anschaffen lassen. Nicht von seinem Ziel abweichen. Andreas, nur er in dieser Familie hatte ihr Rückgrat geerbt. Nur er war ein richtiger Mann. Nur er wusste, was für die Strömungslehre richtig war. Ihr Geschöpf, ihre Schöpfung, sie selbst.
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Andreas und Mutter behielten Recht: Es wurde kein Exempel für die Missachtung der selbstverständlichen Erwartungen gezogen und um seine Stelle musste er sich weiterhin keine Sorgen machen. Die Freiheit der Forschung sei das größte und unverzichtbarste Gut, bestätigte das Ministerium und seine Bemühungen dafür würden ausdrücklich anerkannt. Die Universität sei im Rahmen ihrer Autonomie dazu angehalten das in entsprechender Weise umzusetzen.
Mutter hatte es immer gewusst.
Der Fall wurde an den Rektor und den Personalvertreter zurückgewiesen. Dort reagierte man mit den Schikanen einer Bürokratie, Entzug der Zulage für Vorlesungen und Übungen, von ihm diesmal erfolglos, weil durch seinen Zeitbedarf gut begründbar, beeinsprucht, Gesprächsverweigerung, weiterhin keine Erneuerung des Computers. Andreas verlegte seine Anwesenheit in die Wochenenden und in die Nacht, vordergründig, weil er weniger gestört würde. „Er arbeitet sogar an seinen Urlaubstagen“ rechtfertigte Mutter, dass er schließlich niemanden treffen musste, um mehr als die vorgeschriebenen Arbeitsstunden zu leisten.
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Seit Jahren hatte ich keine Anzeichen erkannt, dass Mutter noch irgendeinen Bezug dazu behalten hätte, was mir gefiel, was ich mir wünschte oder dachte. Sie fragte nicht und wenn ich etwas preisgab, dann nur in Bruchstücken oder in Nebensätzen. Es musste also mehr als eine normale Einladung zu ihrer goldenen Hochzeit sein, als sie plötzlich ganz genau wusste, dass die für mich einzige überhaupt denkbare Gruppenreise eine Nilkreuzfahrt wäre. Ich hatte es tatsächlich gesagt, aber nicht in einem Gedankengang, sondern in Teilen: Dass man mit Kreuzfahrten auf dem Meer ein Land nicht kennen lernen kann, weil die Hafenstädte meist anders als das Landesinnere sind. Dass es wenige Flüsse gibt, an denen genügend Geschichte und Kultur zu finden ist, die die Dauer einer Kreuzfahrt rechtfertigen. Dass geführte Reisen für mich allenfalls in Gebieten in Frage kämen, wo Sprache, Schrift und die Aufdringlichkeit der Bevölkerung sogar die erzwungene Geselligkeit des Gruppendrucks erträglich machen würde. Dass eine Kreuzfahrt die bessere Wahl sein könnte, wenn die Hygiene auf dem Schiff besser als in den Hotels am Land wäre. Dass es nur wenige Orte auf der Erde gäbe, wo die Geburt einer Hochkultur aus dem Nichts greifbar ist. Das alles hatte sie aus ihrer Erinnerung saugen und richtig zusammensetzen müssen.
So wichtig konnte ich ihr nicht sein.
Tatsächlich wollte sie Andreas und mich wieder zusammenbringen, das wurde immer deutlicher, je weniger Raum sie Sylvia und mir ließ eine Ausrede für eine Absage zu finden. So sehr vereinnahmte sie dieses Ziel, dass sie vergaß die richtigen Schuhe auf die Reise mitzunehmen und auf Pantoffeln durch die Ausgrabungen stakste, dass sie auch nach Tagen unser Schiff an der Anlegestelle nicht erkannte, unseren Tisch im Speisesaal nicht alleine fand, dass sie in Esna fast die Leiter hinuntergestürzt wäre.
Das noch vor Sonnenaufgang beginnende Programm und die unwirkliche Hitze auf dem Deck an den freien, aber auch nicht verwendbaren Nachmittagen machte es leichter als erwartet Normalität zu heucheln. Unsere Wortgefechte, dass er ausschließlich Fleisch, davon aber meist fünf Portionen aß, erinnerten mehr an die Neckereien der Schulzeit als an die Diskussionen der letzten Jahre. Dazwischen bewies er mit Schlussfolgerungen aus Axiomen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, dass die Wirklichkeit, wie wir sie sahen, ohnehin nicht existierte. Als er plötzlich Mutter nach vier Tagen schon überzeugt hatte, dass er Grippe bekommen hatte und die Reise abbrechen musste, musste ich nur an seine Stirn greifen um den Mythos des Fiebers und damit seine Erkrankung verschwinden zu lassen.
Am letzten Tag war Mutter so entspannt und fast glücklich, dass sie Sylvia noch unbedingt eine Erinnerung kaufen wollte. Erst als wir spät am Abend in Wien landeten und er noch am Flughafen Mutter dafür beschuldigte, dass ihn jetzt zuhause ein leerer Kühlschrank und damit ein denkbar schlechter Start in die Arbeitswoche erwartete, er aber trotzdem nicht bei ihnen essen und schlafen wollte, war alles wie zuvor.
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Selbst jetzt halte ich es noch für möglich, dass Andreas´ Diplomarbeit wirklich so unglaublich gewesen war. Ich hielt ihn zwar für unfähig ein normales Leben zu führen, aber dass er einen völlig anderen Ansatz für ein mathematisches Thema, radikal und noch nie gedacht, gefunden hatte, von bestechender Logik und mit völlig unerwartetem und revolutionärem Ergebnis, das traute ich ihm zu. Nicht nur seine logischen Gedankenspiele am Nil, auch seine unendlichen Schwierigkeiten im Gymnasium das Offensichtliche als solches zu akzeptieren, die Logik aller als auch für ihn gültig anzunehmen, fielen mir wieder ein. Ich erzählte Sylvia von Hölderlin, der zu Lebzeiten für geisteskrank gehalten worden war und dessen klassisches Werk erst zufällig in seinem Nachlass gefunden wurde.
Fast gebettelt habe der ungarische Mathematikprofessor darum als Co-Autor der Publikation geführt zu werden, fand sich Mutter endlich bestätigt. Weit mehr als eine Diplomarbeit sei es gewesen, eigentlich eine Dissertation, fast eine Habilitation. Einstein fiel mir ein. Hatte ich Andreas so unterschätzt? Ihn selbst sahen wir nicht, er würde auch keine Sponsionsfeier machen, da es ihm ja nie um das Studium gegangen sei. Er wäre täglich mehrere Stunden beim Professor um die Folgeprojekte festzulegen und wo sie in welcher Reihenfolge das schier Unglaubliche publizieren würden. Natürlich sollte Andreas an sein Institut wechseln, er selbst würde sich beim Rektor oder falls nötig im Ministerium darum kümmern, in Anbetracht der wissenschaftlichen Bedeutung sollte das alles kein Thema sein.
Ich hätte es ihm zugetraut, es kam aber völlig anders: Nach seinem Treffen mit dem Strömungslehre-Institutsleiter meldete sich der Mathematikprofessor nicht mehr. Andreas rief ihn unzählige Male an, aber nie war er für ihn zu sprechen. Wenn er hinkam, hieß es er sei in einer Konferenz oder verreist und würde zurückrufen. Seine Mails blieben unbeantwortet.
Nicht einmal, als er sich auf eines der vom Institut ausgeschriebenen Dissertationsthemen bewarb, bekam er eine Antwort.
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