Dann noch die andere Seite: Einer der Zöllner verlangt unsere Pässe und Geld für das Visum und verschwindet. Würde ich ihn wiedererkennen, wenn er nicht zurückkäme? Es gibt keine Reihen, vor jedem Zöllner stehen sie dicht gedrängt, alle schwarz, hektisch durcheinanderredend, die Arme ausgestreckt um zu geben oder zu nehmen. Unser Auto ist von hier nicht zu sehen, nur wenn ich die Tür aufmache, sehe ich wenigstens den Kotflügel, zumindest der ist noch da. Ich würde am liebsten immerfort im Kreis gehen, zur Beruhigung, aber das macht Sylvia nervös, also tue ich so, als lese ich die ausgehängten Schriften, während ich schon froh sein muss, wenn ich denen einen oder anderen Satz verstehe. Ich spüre Schweiß auf Brust und Rücken, obwohl die Klimaanlage läuft. Was will ich eigentlich beweisen? „In 3 ¾ Stunden“ und belüge mich selbst, weil es gemessen am Beginn der Zählung eigentlich nur mehr 3 ½ wären, ich aber nicht Null vor dem Ziel erreichen will. „Boa viagem“ habe ich plötzlich die Pässe in der Hand und bekomme ein Lächeln – über meine Nervosität? Den Zöllner hätte ich nicht mehr erkannt.
Dann noch die Straßengebühr und nach einer Stunde wieder im Auto, das natürlich nicht aufgebrochen wurde, eine leere Schnellstraße ohne Verkehr, der afrikanische Busch, keine Menschen, deshalb also auch keine Fußgänger an der Grenze. „Wieso regst Du Dich immer so auf“ streichelt mir Sylvia die Hand. Und ich denke dabei schon an Maputo und wie wir wohl zum Hotel finden werden. Zwei Stunden! und stelle mir vor schon im Zimmer zu sein.
Jedesmal, wenn ich aufwachte, meinte ich die Schritte des Wächters auf der Terrasse vor unserem Zimmer zu hören, manchmal auch seinen Schatten zu sehen. Als ich jetzt aber die Tür öffne, ist niemand da, nur die Lagune im strahlenden Morgenlicht, so glatt, dass die Bewegung des Wassers gerade noch an den Lichtreflexen zu erkennen ist, eine Stille als wäre alles gerade erst erschaffen worden, keine Spur mehr vom kräftigen Wind des Nachmittags und Abends. Sonne streichelt meine Haut, am Strand geht ein Schwarzer mit einer Angel und winkt, als er mich bemerkt. Die Halbinsel auf der anderen Seite der Lagune ist ein schmaler Keil zwischen dem kräftigen Blau des Himmels und dem kitschigen Karibikgrün des Wassers, davor die Sonnenschirme aus Schilf. Anscheinend waren nur wir im Hotel, die riesige Terrasse, an der alle Zimmer liegen, ist leer, die Vorhänge sind nur bei uns zugezogen. Ein paar Stufen darunter der Sand, zwar doch mit ein paar Abfällen, aber sonst schneeweiß, dann ein flaches, durchsichtiges Wasser und immer wieder fliegt ein Schwarm aus winzigen Fischen für ein paar Sekunden über der Oberfläche. Alles neu und alles nur für mich.
Ich wollte von Maputo so schnell wie möglich nach Norden, Gorongosa, ein legendärer Nationalpark fast genau in der Mitte des Landes war das Ziel, dann konnte ich den Anspruch erheben, das Land auch bereist und nicht nur kurz angerissen zu haben. Sylvia aber hatte Bilene im Führer entdeckt und ich hatte zugestimmt, weil es kein großer Umweg war und ohnehin unklar war, in welchem Ort es überhaupt eine einigermaßen akzeptable Unterkunft geben würde. Es hatte einige Zeit gedauert, bis wir uns auf das Hotel geeinigt hatten, es war teurer als in Südafrika, aber die anderen lagen nicht am Strand, waren sehr primitiv oder sahen noch teurer aus. Die weiße Besitzerin hatte Verhandlungsversuche unwirsch abgeblockt. Schließlich hatte ich nachgegeben, das Zimmer war einfach, die Dusche eine Ecke mit Vorhang, das Waschbecken schief, immerhin aber sauber, wenn auch nicht USA oder Südafrika. Ok, ein halber Nachmittag und irgendwo musste man ja schließlich übernachten, auf der anderen Straßenseite ein portugiesischer Brunnen ohne Wasser, ein altes Gebäude, offenbar die Schule, Kinder ohne Zahl, die uns aus der Ferne beobachteten, aber nicht näher kamen. Vielleicht ein Restaurant, aber völlig leer, insofern Hemmungen hineinzugehen, also Essen im Hotel. Der Preis des Fischs wird durch die Zubereitung bestimmt, was gerade gefangen wird, macht keinen Unterschied. Nachlassen der Spannung als Belohnung für das Erreichte.
„Wir sollten noch eine zweite Nacht bleiben“ kommt Sylvia auf die Terrasse und denkt nicht daran, dass ich heute bis XaiXai und dann nach Inhassoro will, dass ich überlege, wie wir zu Benzin und Essen kommen werden. Wo wohl die schlechten Straßen beginnen würden, ob wir es ohne Reifenschaden schaffen würden und ohne von einem korrupten Polizisten aufgehalten zu werden. Noch drei Tage und wir wären in Gorongosa. „So einen Platz haben wir noch nie gehabt“ stößt sie mich in das Paradies vor uns. Mein Ziel relativiert das mit einem Fischerdorf in Mexiko aus einem anderen Urlaub, es ist doch nur Strand, wir wollen ja nach Gorongosa und es ist nicht so selbstverständlich, dass es klappen wird. Eigentlich wäre ich ja selbst gerne geblieben, aber noch hatte ich es nicht verdient, noch war die Tour erst am Anfang, noch waren wir nicht in Gorongosa. „Beim Zurückfahren“ als Gegenvorschlag, denn erst dann würde ich es genießen. „Die Gegenwart wird auch in der Zukunft nicht besser sein“ zertrümmerte sie meine Ordnung um es mir mit Morgensex zu demonstrieren, noch vor dem Frühstück, das es im Hotel ohnehin nicht gab. An der Tankstelle kauften wir anschließend zwei Früchtejoghurts, die einzigen im Ort, wie wir am nächsten Morgen feststellen sollten, dazu ein paar kleine Brote vom Bäcker, wir saßen auf Betonbänken an der Tankstelle, denn sonst gab es nichts, das Leben machte einen Tag Pause und mit ihm all meine Dämonen. Ein Tag als Loch in der Zeit. Ein Tag Glück auf zerbröckelnden Gehwegen, im weißen Sand, zwischen den fliegenden Fischen im warmen Wasser, im Schatten der Palmen, auf das Mädchen an der Tankstelle wartend, wenn sie in Zeitlupe die Cola-Flasche an der Zapfsäulenkante für uns öffnete und uns neugierig dabei ansah. Ein Tag mit trockenem Brot zu Mittag und frischen, aber in zu viel Öl schwimmendem Fisch am Abend, den Kindern, die uns genau, aber immer von weit weg beobachteten, ein Tag ohne Fernsehen, ohne Musik, ohne Bücher, ein Tag mit der langsam über den Himmel wandernden Sonne, die gerne hätte einfach stehenbleiben können. Warum ist das sonst so schwer? Ein Tag wie ein Leben. Ein Tag als Geschenk, für das ich mich nie bedankt habe.
Gorongosa erreichten wir trotzdem.
*
Es hätte genug Grund für Mutter gegeben stolz zu sein: Auch diesmal würde sie den Krebs besiegen, das wurde mit jeder Nachuntersuchung sicherer. Zumindest ein Teil ihrer Kraft kehrte zurück, die Haltung, die Mimik. Obwohl ihr die Ärzte es für ausgeschlossen gehalten hatten und auch wenn ihr die Schmerzen anzusehen waren, wenn sie kämpfte: Sie hatte keinen künstlichen Darmausgang gebraucht. Trotzdem hatte das alles für sie nicht die Priorität.
„Du solltest seinen Brief an das Ministerium lesen“ war ihre Antwort, wie es ihr gehe. „Du würdest ihm nie zutrauen, wie souverän er formuliert.“ Und hatte schon vier Blätter in der Hand, die ich mir trotzdem nicht aufdrängen ließ. „Worum geht es?“ verweigerte ich demonstrativ die geforderte Identifikation, auch wenn es selbst dadurch kein Ausweichen gab und das Thema für diesen Besuch schon feststand.
„Dass der Professor seine Anwesenheit kontrolliert und ihn der Rektor abgemahnt hat.“ Dass die Freiheit der Forschung, die ureigenste Aufgabe des Universitätswesen nicht mehr gegeben sei, wenn der Professor von ihm verlangte die Übungsbeispiele vorzubereiten, obwohl Andreas die Mathematik - Vorlesungen besuchte. Dass er ihm gezielt und durch Überschreitung seiner Befugnisse die Möglichkeit nahm seine wissenschaftliche Arbeit fortzuführen, obwohl sich gerade am Beispiel der Strömungslehre zeige, dass das Beharren auf den alten Weg in eine Sackgasse und damit in den Stillstand geführt hat. Seit Jahren sei genau deshalb nichts mehr publiziert worden. Dass nur ein neuer Geist verhindert würde, dass man glaube sich von internationalen Maßstäben abkoppeln zu können. „Er wollte natürlich nicht, dass Andreas jetzt ausschließlich Mathematik macht“ kann ich nicht zustimmen, obgleich ich damit wieder auf einen Streit zusteuere. „Wer wollte denn, dass er Mathematik lernt?“ und wenigstens beginne ich nicht auch noch mit den zwei vereinbarten Semestern, an die ich mich erinnern kann, die für sie mittlerweile aber ausgelöscht waren. Meine Erinnerung war in solchen Situationen immer falsch, so war es sicher nicht gewesen.
Читать дальше