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Eine Überraschung am letzten Tag vor Weihnachten: Der Eigentümer hat beschlossen, dass meine Abteilung als eigene Firma ausgegliedert wird. Damit bin ich doch wieder Geschäftsführer. Klingt gut, aber wie soll diese Puppenküche ohne finanzielle Hilfe überleben? Mehr Skepsis als Freude.
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Ich besuchte Andreas an seinem Institut, ungeplant und nicht angekündigt, einfach weil ich am Nachbarinstitut zu tun gehabt hatte, seit der Auseinandersetzung bei den Eltern hatten wir uns nicht gesehen. Er schien sich sogar zu freuen. Hätte er doch gerne mehr Kontakt? Oder spielten wir eine Normalität, die es gar nicht gab? Immerhin keine Spannung. Das Gebäude ist gespenstisch leer, wer arbeitet schon nach 18 Uhr auf einer Uni, noch dazu im Sommer, das schmutzige Fenster flimmerte in der schon sinkenden Sonne. Zwei Schränke voll mit Büchern zu linearer Algebra. „Wieso so viele?“ Er brauche alle, sogar aus USA habe er bestellt, zum Teil antiquarisch, weil vergriffen, unglaubliche 35000 Euro insgesamt, für ihn fast ein Jahresgehalt, sogar sein BMW-Motorrad habe er dafür verkauft. Es könne doch nicht in allen etwas anderes zum selben Thema sein? Nein, aber er wolle sicher sein, dass er nichts übersehen würde ohne es auch wirklich vollständig verstanden zu haben. Mir fiel ein, wie er schon zu Schulzeiten Stunden und Tage in irgendwelchen Fragen gebohrt hatte um zuletzt erleichtert das tun zu können, was jeder andere ohne nachzudenken auch so getan hatte. Auf wie vielen Ebenen und aus wie vielen Perspektiven er etwas verstehen musste um es auch akzeptieren und verinnerlichen zu können. „Du in Deiner Oberflächlichkeit“ hatte er damals gesagt, wenn mir es auch ohne weiteres Nachdenken einfach klar war. Hatte er endlich seine Freiheit gefunden? Oder sein Gefängnis in diesem Büro mit dem Geruch nach überreifen Bananen, dem vielen Papier mit Berechnungen, dem abgewetzten Stuhl, dem Blick in den schon wieder leeren Hof?
„Wie viele Semester willst Du eigentlich noch Mathematik machen?“ ließ er ohne Antwort, vielleicht weil ich ihn ohnehin nicht verstehen würde und er längst wusste, dass es alle sein würden. Stattdessen die Frage, wie es mir ginge, unverfänglich, aber eben auch nicht gerade ergiebig. Also meine Gegenfrage, Wochenenden? Aber es gab auch da nichts, nur Algebra offenbar, jeden Tag, jede Minute, über die er jetzt jedoch nicht mehr reden wollte, was sollte er mir auch darüber erzählen? Die Pausen immer länger, Kommentare über die Eltern wie bei einem Klassentreffen über die alten Lehrer, nein er sieht sie auch kaum, Informationsstand deshalb vergleichbar. Sylvia? Ja, geht, alles soweit ok. Also Fragen zu seinem Tagesablauf, belanglos wie unter Fremden. Kein Anknüpfungspunkt. Wie findet man ein Ende? Die Zeit steht hier, ich stehe auch, weil nur ein Sessel, schließlich trennen wir uns freundlich, aber ratlos. Brüder? Die untergehende Sonne wärmt noch, ich schüttle mich ab.
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An den Abenden während der Woche musste ich nicht unbedingt daran denken, auch wenn es ungewohnt war die Abendnachrichten oder den Hauptabendfilm zu sehen. Ab Freitagnachmittag jedoch konnte ich nicht ausweichen: Schon am frühen Nachmittag waren die Büros leer und mir blieb nur der Computer ohne Mails und das Telefon ohne Anrufe. Niemand braucht mich. Habe ich wirklich genug gegeben um jetzt schon gehen zu dürfen? Ohne erschöpft zu sein?
Was würden die Nachbarn denken, wenn ich jetzt schon nach Hause komme? Ich, der immer in Eile war, der nie Zeit hatte, der immer auf Reisen war? Sahen Sie meine Unwichtigkeit? Erkannten Sie, dass ich mein Geld zu Unrecht erhielt? Machten sie sich über mich lustig? Glaubten sie, ich hätte mich immer nur wichtig gemacht?
Ich bin in der Wohnung und es ist noch hell. Immer noch Freitag und ich habe schon die alltäglichen Dinge erledigt, zu denen ich früher erst am Sonntag gekommen bin. Dabei brauche ich keinen Schlaf wie Bewusstlosigkeit am Samstag und auch am Sonntag muss ich nicht schon irgendwohin fliegen, weil der Montag dafür zu schade gewesen wäre.
Ich könnte natürlich lesen, aber ich haste über die Seiten, als wäre meine Zeit gestohlen und verliere die Zusammenhänge. Im Fernsehen jage ich durch die Programme, nichts, woran ich hängen bleiben könnte. Ich hatte mir oft gewünscht am Wochenende wenigstens eine CD in Ruhe hören zu können. Aber jetzt plätschert die Musik farblos an mir vorbei, die Melodien ohne Feuer, der Rhythmus monoton. Ich könnte endlich mit Sylvia sprechen, aber was gab es in meinem Leben, was ich ihr erzählen sollte? Wozu konnte ich noch etwas sagen, was nicht meine zusammengestauchte Kompetenz überschritt und trotzdem interessant war? Wenn ich mit ihr schließlich stritt, dann nur um ihr und vor allem mir zu zeigen, dass noch Leben in mir war. Dass ich noch da war.
Eigentlich hatte ich alles: Das gleiche Gehalt wir zuvor, endlich Zeit für die Ehe und mich, Sylvia, die Wohnung. Ich wusste natürlich auch, dass ich das frühere Leben nicht mehr lange durchgehalten hätte. Dass ich dankbar sein musste, dass es anders geworden war.
Aber hätte ich die Möglichkeit gehabt, ich hätte mein früheres Leben inhaliert wie Kokain.
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Er durfte seinem Körper nicht trauen. Er hätte gar nie auf ihn hören sollen. Der wollte die Muskeln und hat ihn in den Sport getrieben. Der wollte von allen angesehen werden. Der wollte die vielen Proteine. Und der hat ihn dann im Stich gelassen und fast umgebracht.
Und am schlimmsten: Jetzt tut er, als sei gar nichts gewesen. Wie sollten die anderen verstehen, wie dreckig es ihm geht, wenn von außen nichts zu sehen ist?
Er musste ihn strenger kontrollieren. Keinen Exhibitionismus mehr zulassen. Jeder sollte schon am rasierten Kopf erkennen, wie krank er ist. Und keine muskelbetonten Shirts mehr, keine engen Jeans oder sogar Lederhosen. Sein Körper sollte aussehen, wie er war, nämlich krank, schwer krank. Vor allem würde er ihm das nicht mehr geben, was er am meisten wollte, nämlich Eiweiß. Bei der Eiweißverbrennung entstehen nämlich Nitroseverbindungen, die das Hirn beschädigen. Er war ausgewachsen, er brauchte kein Eiweiß mehr. Das Hirn braucht Kohlehydrate, kein Eiweiß. Und er wollte auch die ganzen Hormone nicht mehr. Wozu? Damit alles wieder von vorne losging?
„Dein Großvater hat den Ärzten am letzten Tag auch immer die Tabletten zurückgegeben, die er nicht eingenommen hat“ bestärkte ihn Mutter, einmal mehr beeindruckt, was Andreas alles über die Zusammenhänge von Hormonen, Proteinen und Nitroseverbindungen erklären konnte. Mehr als selbst die Ärzte wissen. Wer sonst, wenn nicht er, sollte entscheiden, wie lange er die Ersatzhormone nehmen sollte?
Sie sprach immer von seinen Ersatzhormonen, denn Psychopharmaka klangen nach Geisteskrankheit.
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Was sollte ich eigentlich tun? Die sogenannte Fertigung war ein Handwerksbetrieb. Es gab keine Hallen, in denen Maschinen in Reihen aufgestellt waren, sondern eine Ecke in einem alten Gebäude, wo 3 große und zwei kleine Drehbänke standen. Da war auch kein Fertigungsleiter, schon gar kein Geschäftsfeldleiter, nur ein Meister. „Die Aufträge haben wir noch immer weggebracht“ fasste er seine Mengen- und Terminplanung zusammen. Was sollte ich ihm sagen? Dass wir die Produktivität um 20% steigern sollten? Rechnerisch könnten wir dann zwei Köpfe sparen, allerdings leider nur rechnerisch, da jeder ein anderes Spezialgebiet hatte. Aber selbst wenn, die beiden waren gemeinsam halb so teuer wie ich allein. Höhere Ausbeute also? Der Materialwert war nur im Cent-Bereich, Arbeitszeit ohnehin vorhanden. Also? In der Montage 3 Mädchen mit Mikroskopen. Fünf Ingenieure in der Entwicklung, Experten seit Jahren. Was sollte ich dem Entwicklungsleiter sagen? Ich konnte nicht einmal die Konstruktionszeichnungen lesen. 2 neue Typen hatte sich der Vertrieb gewünscht, typische Entwicklungszeit je zwei Jahre. Wenn die Fertigung nicht zu stark ausgelastet ist, denn dann musste geliefert werden und die Ingenieure mussten warten. 2 Sensoren für 4 Entwickler? Fertigungsbetreuung, Vertriebsschulung, Kundenberatung: Sie wussten, dass ihr Expertenwissen unverzichtbar war. Einen zusätzlichen Sensor erwartet niemand. Für den Vertrieb war eine andere Abteilung verantwortlich, 5% im Jahr waren sie immer gewachsen und würden es auch nächstes Jahr tun. Manchmal kommt sogar noch ein Prozent dazu, wenn sie nämlich die Preise anheben, heuer aber nicht. Das Ergebnis in allen Details seziert, die Kosten bekannt und einfach zu viel, 15% mehr als der Umsatz. Dazu ab jetzt noch ich, also weitere 5%. „Vor einem Jahr haben sie uns schon einmal einen Fertigungsexperten geholt, aber der ist gleich wieder gegangen, als er gesehen hat, dass seine Methoden hier nicht passen“ „Für den Vertrieb sind unsere Sensoren nicht so wichtig, weil sie vom Wert her unbedeutend sind“
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