Die kleine Schwester der sieben ostfriesischen Inseln: Baltrum
Baltrum, die kleinste der sieben ostfriesischen Inseln, ist mit der Fähre von Neßmersiel zu erreichen. Diese Donröschenperle der Nordsee ist autofrei, liegt 4,5 Kilometer vom Festland entfernt, hat zirka 511 Einwohner und ist 5 Kilometer lang und 1,4 Kilometer breit. Ach ja, für die Freunde der Statistiken noch eines, diese liebenswerte Insel hat demnach eine Fläche von 6,5 Quadratkilometern. In Sichtweite des Anlegers auf einer kleinen Anhöhe sieht man schon von Weitem an den verschiedenen flatternden Fahnen an den Masten die Kneipe mit einem Café. Der Inhaber der Kneipe wollte es sich mit keinem Fußballfan als Feriengast verderben und hatte deshalb alle Bundesligavereine sozusagen unter Wind. Sogar die zweite Bundesliga war flaggenmäßig vertreten. „Ich bin der einzige Trainer der Welt, bei denen alle Vereine Wind von vorne bekommen“, sagte der Wirt, ein ehemaliger Kapitän zur See, Engelbert von Ritter. Blaublütig mit Zertifikat, Brief und Siegel. Er betrieb die Kneipe mit dem originellen Namen ‚Ohne Hausnummer‘ zusammen mit seiner Schwester Gundula Hermine Dorfler, geborene von Ritter. Der Herr Dorfler war hier vor langer Zeit einmal Feriengast gewesen, hatte einen kapitalen Inselkoller bekommen und war mit dem ersten Nebel auf See, beziehungsweise mit der ersten Fähre zum Festland verschwunden. Das war ein schwarzer Montag für Gundula Hermine gewesen. Sie hatte etwas gebraucht, um sich über den Verlust dieses Herrn Dorfler hinwegzutrösten und da die Geschwister das Haus auf der Anhöhe in Sichtweite zum Anleger von den Eltern geerbt hatten, betrieb sie das ‚Café XXL‘ mit einer Teestube und der Bruder die Kneipe. Zwischen den Räumlichkeiten gab es einen Durchgang, damit die Gäste bei Sturm und Regen nicht erst auf die Straße mussten. So lautete die Begründung der Inhaber wegen des Durchgangs an das Bauamt in Esens. Von diesem Amt waren sogar zwei Beamte zur Begutachtung gekommen. Sie hätten auf der Insel sowieso einiges zu prüfen, wie sie sagten.
Früher hatte das große Bauernhaus ein schickes Reetdach, was jedoch aufgrund der Stürme und witterungsbedingten Einflüssen dringend erneuert werden musste. Da die Brandkasse die Prämie für Häuser mit Reetdächern kräftig angehoben hatte, entschied man sich für rote Dachziegel. Der Name der Kneipe ‚Ohne Hausnummer‘ hatte aus einer Besonderheit auf Baltrum ergeben. Hier tragen die Straßen keine Namen, sondern die Häuser haben nur Nummern.
Engelbert von Ritter war zwei Meter groß, wog seine 130 Kilogramm und, man höre und staune, trank als Wirt selber absolut keinen Alkohol. Er war dreißig Jahre auf große Fahrt zur See gefahren, hatte die ganze Welt gesehen und zuletzt hatte er als verantwortlicher Kapitän einer Reederei aus Bremen ein großes Containerschiff zwischen Amerika und Europa befehligt. Die Familie stammte von einer Nachbarinsel und die Eltern hatten seinerzeit das schöne Anwesen auf Baltrum gekauft. Die Kneipe ‚Ohne Hausnummer‘ war an 365 Tagen im Jahr geöffnet und selbst Weihnachten und Sylvester konnte man ohne Voranmeldung hier erscheinen. Allerdings gab es zum Essen während des Jahres immer nur Bockwürste mit Senf und Kartoffelsalat, oder wie ein Gast mal bemerkte, Senf mit Bockwürsten und dazu den guten Kartoffelsalat. Zu Weihnachten und zum Jahreswechsel kam als kulinarischer Jahreshöhepunkt eine Ergänzung in Form von leckeren Frikadellen, natürlich mit Senf, Tomatenketchup war hier verpönt. Ansonsten musste sich der Feriengast in einem der wundervollen anderen Restaurants versorgen. Die Scholle war hier auf der Insel Baltrum besonders gut, die Gäste leckten sich die Finger nach dem Essen. Die Einrichtung der Kneipe ‚Ohne Hausnummer‘ war schon einzigartig. Der große, ehemalige Schankraum war umgebaut und eine originale Einrichtung eines Fischtrawlers hier als Wirtschaft hergerichtet und eingepasst worden. Die Arbeiten hatten sehr lange gedauert, da zuerst einmal ein passender Bootsbauer gefunden werden musste. Ein pensionierter Bootsbauer vom Festland mit zwei Bootstischlern für Innenausbauten trauten sich die Arbeiten zu und lieferten einen Beweis für gute Handwerksarbeit ab. Das Holz roch immer noch nach Teer und Fisch und man konnte förmlich den Seewind spüren und sich das Möwenkreischen vorstellen, wenn die Netze eingeholt wurden. Die gesamte Einrichtung der Kneipe war auf Fischerei, mit Modell– und Buddelschiffen, Netzen und echten Seesternen und hölzernen Galionsfiguren abgestellt. Die Kneipe war so richtig kommod. Der Wirt war ein großer Bastler und sammelte vom Strand das angeschwemmte Holz und daraus wurden Inselgegenstände angefertigt. Zum Teil waren die Stühle kunstvoll aus angeschwemmtem Holz von ihm angefertigt worden. Der Gast konnte den Stuhl in der Kneipe, auf dem er saß käuflich erwerben und sofort mitnehmen.
Das angeschlossene Café der Schwester hatte in einem Neubau zehn schicke Fremdenzimmer und bot diese als Hotel Garni an. Zum Essen ging man in eines der guten Speiselokale auf der Insel. Geöffnet wurde die Kneipe täglich um Punkt elf Uhr am Vormittag und der Betrieb ging normalerweise bis Mitternacht, jedoch gab es auf der Insel keine Polizeistunde und so war man in der Nachtzeit flexibel. Der Wirt hatte in dem Kneipenbetrieb einen festen Personalstamm von fünf Mitarbeitern und so konnte er, wie er sagte, außerhalb der Spur arbeiten. Er war aber jeden Tag in seiner Kneipe. Wenn er Urlaub machen wollte, ging er für Stunden an den einsamen Strand und ließ sich die Lungenflügel durchpusten. Zum Festland zog es ihn nicht. Diese Ruhe, das war es, was die Insulaner so liebten. Und alles musste seinen geplanten Gang gehen, denn das Chaos kam von alleine, es klopfte vorher nicht an die Tür.
Vor einiger Zeit, es war gerade der Frühling vorbei und man konnte an der milden, samten Luft den nahenden Sommer erahnen, war ein Gast in das Café gekommen. Der vollständige Name des Cafés war: ‚Café XXL neben der Kneipe Ohne Hausnummer‘. Abgekürzt hieß es auf der Insel schlicht ‚Das Café XXL‘ oder nur ganz kurz ‚XXL‘. Dieser Gast hatte erschöpft und fast panisch gewirkt. Er hatte sich eine Kanne Kaffee bestellt und diesen mit einigen Pillen gegen Übelkeit mit einem großen Grunzer, wie „Ahh“ durch seine Kehle geschüttet. Die Bedienung hatte Gundula Hermine Dorfler angesehen und ihr am Tresen leise zugeflüstert: „Was ist das denn für einer?“ Gundula hatte sorgenvoll zu dem Gast geblickt und zu ihrer Bedienung gemeint: „Hast du die Telefonnummer vom Inselarzt?“ Als die Bedienung Susanne mit dem Kopf geschüttelt hatte, hatte Gundula das Telefonbuch aus der Schublade gesucht, da sie für alle Fälle gewappnet sein wollte. Der Gast hatte sich den kalten Schweiß von der Stirn gewischt, aus dem Fenster gesehen und sich mit der rechten Hand am Tisch fest gehalten, so als würde das Café wie ein Schiff auf See schaukeln. Gundula Hermine hatte abwechselnd auf ihr zu polierendes Weinglas gesehen, denn hier in dem Café wurde auch Wein ausgeschenkt. Weitere alkoholische Getränke bis auf einen Kräuterschnaps gab es im Café nicht. Der Gast, der offensichtlich seine persönliche Sturmfahrt nach Alaska zu verarbeiten hatte, war langsam grün im Gesicht geworden. Die Wirtin war nun mit dem Polieren des Glases fertig, hatte es zufrieden betrachte, es in die Glasvitrine gestellt und war zum Gast gegangen. „Ist ihnen nicht wohl? War die Überfahrt so schrecklich." Der Gast hatte sie kläglich, zum Erbarmen angesehen und seinen wehleidigen Blick gehoben. ,,Ich habe gerade die Höllenfahrt meines Lebens hinter mich gebracht. Ich bin mit der Fähre angekommen.“ Gundula hatte abgewartet, denn da musste ja noch etwas kommen, man konnte ja nur mit der Fähre oder mit dem Flugzeug auf die Insel kommen, denn als Schwimmer und mit einem Koffer in der Hand würde es wohl etwas schwierig sein. So hatte sie zu ihm gesagt: „Verzeihen Sie bitte, Sie sagten, Sie wären mit der Fähre angekommen, wie sonst wollten Sie Baltrum erreichen? Es geht nur mit dem Schiff oder dem Flugzeug.“ Bei dem Wort Flugzeug war seine Reaktion durch seinen Blick so heftig gewesen, dass Gundula hatte schnell reagieren müssen und zu Susanne am Tresen gerufen hatte: „Geh eben rüber in die Schankstube und hol einen Engelbert Speziale.“ Susanne war schnell zur Schankstube gelaufen und blass und aufgeregt mit dem Schnaps wieder gekommen. Im Schlepptau war, die Tür ausfüllend, der Meister des Schnapses selber erschienen. In der linken Hand, das war keine normale Hand, das war ein kleines Wagenrad, hatte er wie ein Puppenfläschchen eine ausgewachsene Mammutflasche mit dem roten Etikett ‚Engelbert Speziale‘ gehalten. Diese Flasche sah gefährlich giftig aus und jeder Gast, der diesen Schnaps bestellte, bekam auch nur ein Gläschen, maximal zwei Gläser am Abend. Engelbert sagte immer: „Meine Gäste sind mir zu wichtig, ich brauche sie noch.". Dabei hatte einmal ein anderer Gast am Tresen im Scherz die Fingerbewegung fürs Geldzählen gemacht. In diesem Fall konnte man schon einmal im Café eine Ausnahme machen, aber mehr als zwei Gläser bekam auch dieser Gast dort nicht, sonst hätte der Doktor ran gemusst.
Читать дальше