An diesem Abend saß der Pastor Müller drei am Tresen und hatte seinen großen Schoppen Wein vor sich stehen. Als seine Tresenmitbewohner nach und nach an diesem Abend in die Gärwiete herein schneiten, meinte der erste zu ihm. „Na, Pastor, trinkst du deinen Messwein von deiner Kark“? Mit Kark ist auf plattdeutsch die Kirche gemeint. Pastor Müller drei stand kurz vor dem Ruhestand und hatte heute eine besonders schwere Beerdigung hinter sich. Schwer im wahrsten Sinne des Wortes, denn zum Einen war die Bestattung mit der Predigt für ihn sehr anstrengend, weil die Angehörigen etwas für ihr Geld haben wollten, wie sie salopp sagten, zum Anderen war die Verstorbene eine sehr übergewichtige Person und es mussten zwei weitere Sargträger aus der Nachbargemeinde angefordert werden. Alle Träger bekamen für ihre Plackerei ein Extrageld. Der Pastor war in der Gemeinde sehr beliebt, weil er sich wirklich um die Belange der Leute kümmerte und weil er, als das Wasser kam, wie die Hitzacker die schlimmen Überschwemmungen der Elbe in Hitzacker ehrfurchtsvoll nannten, den Wasseropfern schnell geholfen hatte. Seine Kirche lag erhöht und war ruckzuck von ihm und den anderen Helfern in eine Notunterkunft umgewandelt worden. Eine Gulaschkanone war herbeigezaubert worden, damit alle einen warmen Löffel in den Bauch bekämen, wie er gemeint hatte. Nun saß er melancholisch am Tresen und die anderen trösteten den sonst immer fröhlich Trost gebenden Pastor. Sogar Maria sagte etwas und hatte Tränen in den Augen. Denn alle wussten, der Pastor ging in Rente und wollte sich einen Jugendtraum erfüllen. Er wollte nach Kalgoorlie-Boulder auswandern. Erst hielten die Tresenbrüder das für einen Witz aus der Schublade der Bierlaune heraus, denn der Pastor mochte auch gerne einen guten Schoppen Wein und sagte nicht nein. Er war aber immer korrekt, wie es sich für einen Kirchenmann gehörte. Im Gegenteil, die Gemeinde liebte ihn, weil er einer von ihnen war, mit dem man Pferde stehlen konnte. Dennoch war auch Respekt ihm gegenüber zu bemerken. Erst als der Schulleiter Lehmann der Grundschule gemeint hatte: „Was willst du denn in Australien?“, waren die Gäste hellhörig geworden. Einige hatten wohl gedacht, er würde in die Lüneburger Heide oder, noch schlimmer, nach Ostfriesland oder auf eine Hallig auswandern und Kalgoorlie-Boulder wäre ein altplattdeutscher Name des Dorfes. „Nach Australien, na sowas,“ hatten sie ungläubig gesagt und durch die Zähne gepfiffen, „da willst du bestimmt als Pastor mit deinem Klappaltar herumreisen oder als Hungerpastor?" Die Leute hatten vor Vergnügen laut geprustet und Müller drei war für eine lange Zeit das Thema in der Gärwiete gewesen. Einige hatten aufgrund des späten Abends, es konnte aber auch an den Bieren gelegen haben, den Ort nicht richtig mitbekommen. Die später ankommenden Gäste waren natürlich sofort von der Neuigkeit informiert worden und Kalgoorlie-Boulder war schnell nach Alaska verlegt worden. „Er wolle die neuen Goldsucher am Klondike bekehren und am Sonntag dort in einer alten windschiefen Bretterbude von Kirche die Messe lesen.“ „Da kannst du in der Woche deine Kollekte mit selbst geschürftem Gold aufbessern.“ Andere sahen ihn, als sie endlich den Erdteil Australien begriffen hatten, ihn, den Pastor Heiner Ulf Müller, der Müller drei, in Australien bestimmt als Müller vier bezeichnet, weil es dort doch viele Auswanderer mit dem Namen Müller gab, schon apathisch auf einem alten klapprigen Gaul sitzen oder mit weit heraus hängender Zunge durch den heißen Sand laufen und sich nach Hitzacker in die Kneipe Gärwiete mit dem schönen Wein zurücksehnen. „Der bekommt dort in Australien einen Sonnenstich, denkt an Müller eins, der auch hier wegwollte und nach Berlin ausgewandert ist.“ Immer wenn die Kneipentür geöffnet wurde und die verbrauchte Luft sich quasi die Hand mit der neuen, frischen Luft in der Türöffnung gab, kam ein lautes fröhliches Gelächter aus der Gärwiete und die Anwohner dachten, da ging es wieder mal hoch her. Jubel, Trubel, Heiterkeit in Hitzacker. Irgendwann fragten sie ihn nach seinen Auswanderungsplänen, als sie bemerkten, er machte wirklich ernst. Der Pastor erklärte, dass der Ort Kalgoorlie-Boulder tatsächlich auch heute noch mit der Goldsuche in Australien zu tun hatte, zirka achtundzwanzigtausenddreihundert Einwohner hatte, sich dort die größte Goldmine der Welt befand und in Western Australia an einer Bahnlinie liegt, die diesen Ort mit Perth, einer Millionenstadt verbindet. Er sagte ihnen auch noch folgendes: „Ich werde in einem Team von Theologen und Ärzten mitarbeiten. Ich denke, dies war der entscheidende Punkt, dass ich dort eine Aufenthaltserlaubnis bekommen habe. Wir, das heißt die Organisation, unterhält ein von den Amerikanern aufgekauftes Transportflugzeug und damit können wir auch unwegsames Gebiet in Australien erreichen, um die Menschen zu versorgen. Mit mir sind vier weitere Theologen mit an Bord. Wir haben auch Zelte dabei, in denen wir uns um die Menschen kümmern können. Und wir haben sogar ein extra Zelt als mobile Kirche. Es ist auch ein staatlicher Fachmann für Verwaltungsfragen dabei, der die Menschen beruflich beraten kann und ihnen die Wege in der Verwaltung freimacht. Wir versuchen dieses Flugzeugprogramm als Test in Australien laufen zu lassen, aber in Wirklichkeit zielen wir für später auf die Versorgung von Menschen in armen Regionen in Afrika ab.“ Sie hörten ihm schweigend und interessiert zu. Er erzählte ihnen von einem Buch in seiner Kindheit, das ihn bis heute nicht mehr losließ. In jeder seiner freien Minute hatte er sich in den letzten zehn Jahren mit Australien beschäftigt, die Sprache gepaukt und sich alle Bücher über das Land bestellt. Sein Einwanderungsgesuch wurde genehmigt. „Denn als Pensionär kann ich mich selber versorgen und notfalls“, dabei lächelte er, „kann ich mit dem Planwagen und klapprigen Gäulen durch die Wüste ziehen.“ Der Witz, den andere ja erzählten und der zum lauten Lachen animierte, kam aus seinem Mund mit denselben Worten ganz anders an. Keiner lachte, sie hatten einen dicken Kloß im Hals und Monika drehte sich mit ihrem zu putzenden Bierglas weinend zur anderen Seite der Theke um. Maria Brettschneider schluchzte herzzerreißend auf und hielt sich die Hände verschämt vors Gesicht. Der Pastor war ganz gerührt und sagte, auch mit einem dicken Kloß im Hals und der Blick verschleierte sich vor Tränen: „Kinder, ich komme euch hier ja mal besuchen.“ Es war plötzlich still, die Gäste schnieften in die Taschentücher, die Brillen wurden abgenommen, um die Tränen zu trocknen. Ein Thekennachbar wandte sich an seinen Kumpel: „Wer hätte gedacht, dass die Maria eine solche heftige Reaktion zeigen würde. Ich dachte, eher würde man den dritten Weihnachtstag einführen.“ Als die Tür aufging und ein bekannter Gast hereinkam, wunderte dieser sich: „Was ist denn hier los, ist jemand gestorben?“ Monika beruhigte sich und rettete die Lage. „Ich gebe schon jetzt einen auf die Rückkehr von Müller drei nach Hitzacker aus. Er wird uns dann bestimmt hier in der Gärwiete seinen großen Goldfund aus Australien zeigen. Was wollt ihr trinken?“ Damit beruhigte sich die Situation und die Gäste konnten ihre verlorene Fassung so langsam wieder gewinnen. Auch der schwarze Humor, der kurz verloren gegangen war, ließ sich wieder in den Gesprächen der Gäste blicken. Einer fragte seinen Thekennachbarn leise, ob nicht in dem Flugzeug ein kleiner Platz für eine mobile Kneipe wäre. Sie brächten auch den Wein mit, der hier in Hitzacker angebaut wurde. Die Lachfrequenz auf der nach oben hin offenen Kneipenskala kam in Wallung. „Sag mal, Pastor“, fragte der neue Gast, der kurz von der Sachlage informiert worden war, „wer ist denn dein Nachfolger?“ Der Pastor hatte gerade seine Rechnung bezahlt und war auf dem Weg zur Tür, wo er sich umdrehte. Alle blickten ihn gespannt und schweigend an. „Das ist eine Pastorin, ihr könnt euch auf sie freuen, eine sehr nette und sympathische Person.“ Damit verließ Pastor Müller drei die Kneipe und ein kalter Windzug huschte schnell durch die offene Tür, die mit einem lauten Klacken zufiel.
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