Der Prinz lächelte und neigte sich zum Gesicht des Kapitäns herunter.
"Mein guter Caspar, alles zu seiner Zeit. Im Moment musst du nur wissen, dass Pépe vielleicht noch längst kein Einzelfall war. Da du aus bestimmten Gründen, die allerdings auch mir bisher verborgen geblieben sind, beschützt werden musst, wurde ich als dein Leibwächter abkommandiert. Sieh dich also vor und pass auf, wem du dein Vertrauen schenkst."
Mit diesen Worten erhob sich der Prinz und ging aus dem Haus. Caspar saß immer noch auf dem Sofa und kratzte sich am Bart.
"Ich glaube, das muss ich erst mal mit einem schönen Glas Rum besprechen. So ein sonderbarer Kerl ist mir ja noch nie untergekommen, auf meinen gesamten Seereisen noch nicht. Na ja, womöglich wache ich morgen früh auf und das alles war wieder bloß einer meiner beknackten Träume. Falls allerdings nicht, dann wird das unter Umständen ein ganz nettes Abenteuer."
Er stand auf und ging in die Küche. Während er verwirrt dem Alkohol zusprach, schlich Eldrit wieder ins Haus und setzte sich aufs Sofa.
"Caspar", schüttelte er nachdenklich den Kopf. "Ich frage mich, weshalb du so interessant für deine Feinde bist. Bisher war der Junge von letzter Nacht immerhin der einzige Angreifer. Ich will hoffen, dass es auch dabei bleibt. Aber Hoffnung, habe ich mal gehört, ist nur dann Vorbote des Erfolges, wenn Pech ihr nicht entgegen reitet."
Wellen schlugen gegen die Felsformation, die groß und prächtig vom Festland ins Meer ragte. Die kleine Bucht, in der einsam das Schiff vor Anker lag, beherbergte ein paar hundert Möwen, die hier friedlich ihr Vogeldasein fristeten. Inmitten des ganzen Hafentreibens, der Fischer, die ihren Fang unter die Leute brachten und der verträumten Hafenarbeiter, schlenderte Caspar, Kapitän der Cerpat, über den Strand, der den Hafen mit dem kleinen Fleckchen am Leuchtturm verband, zu seinem Schiff und zog genüsslich an seiner Pfeife. Mehrere Möwen begleiteten den alten Seebären, der seine weißblaue Kapitänsmütze erhobenen Hauptes trug. Die Luft wehte salzig und kühl um die Nase des Alten, während er auf eine Gestalt am Ufer zusteuerte. Es war Eldrit, der Trollenprinz, der ihn dort bereits erwartet hatte und die Möwen beobachtete. Als Caspar sich näherte, drehte er sich zu ihm um und lächelte. Caspar sah an Eldrit vorbei zu den Vögeln, die inzwischen im Sand saßen und ihr Federkleid putzten. Plötzlich bewegte sich eine von ihnen beinahe unmerklich auf Eldrit zu und öffnete leicht den Schnabel. Der Prinz tat so, als merke er es nicht. Caspar sah sich das Schauspiel an und stutzte, sagte aber kein Wort. Als die Möwe ganz dicht bei dem Prinzen stand, klappte der Schnabel unnatürlich weit auf und ihm entstieg ein bestialischer Gestank wie von tausend faulen Eiern. Der alte Kapitän hielt sich seine weißblaue Kapitänsmütze vors Gesicht, um nicht zu ersticken. Selbst dem Trollenprinz sah man an, dass ihm die Luftverpestung nicht gerade behagte. Auf einmal wurde die Möwe so groß wie Eldrit, die weißen Federn fielen reihenweise in den Sand und zum Vorschein kamen fledermausähnliche, bizarr in die Länge gezogene Schwingen mit enormer Spannweite. In der Dunkelheit des Schnabels flammten zwei gelbe Punkte auf und aus den vermeintlichen Augen wuchsen lange Hörner, die an ihrer Spitze einer Spirale glichen. Caspar sah zu Eldrit, doch dieser rührte sich keinen Millimeter vom Fleck.
Er flüsterte dem Kapitän nur leise zu: "Ich sagte doch, schenke dein Vertrauen den richtigen Wesen!"
Mit diesen Worten drehte sich der Prinz um und versetzte der Kreatur einen dermaßen harten Schlag, dass diese zu Boden stürzte und in die Möwenmenge rutschte. Das eigenartige an der Szene war, dass keine Faust des Prinzen zu sehen gewesen war, sondern diese weiterhin von seinem Mantel verhüllt wurde. Als der Prinz im nächsten Moment sah, was er da gerade geschlagen hatte, versagte ihm für einen kurzen Moment der Atem, so als hätte er mit einer anderen Erscheinung gerechnet. Mit ernstem Blick nahm Eldrit den total verwirrten Caspar mühelos auf die Schulter, so als hätte er dies schon sein gesamtes Leben über getan, und rannte zum Schiff. An Bord angekommen, setzte er Caspar wieder ab, wandte sich rasch um und sah, wie die Kreatur sich langsam wieder aufrichtete und samt dem kompletten Möwengefolge, welches ihr zu gehorchen schien, dem Schiff näherte. Sofort holte Eldrit, zu Caspars Verblüffung, den Anker ein und setzte die Segel. Günstigerweise bließ mittlerweile ein stärkerer Wind und trieb die beiden Flüchtenden vom Strand fort. Während der Trollenprinz das Steuerrad übernahm, behielt Caspar die kreischende Möwensippe samt ihrem grausigen Anführer im Auge.
Der Wind meinte es gut mit ihnen, denn sie kamen schneller voran als ihre Verfolger. Bald schon war das Festland nicht mehr in Sichtweite, und sie fuhren noch immer. Schließlich, als Caspar verlauten ließ, dass keine Gefahr mehr bestünde, holten sie das Segel ein und erholten sich von der überstürzten Flucht. Nach einiger Zeit war noch immer nichts von dem Schnabeldrachen , wie Caspar das Geschöpf nannte, zu sehen.
Caspar lehnte sich an die Reling: "Eldrit, nun erklär mir mal Punkt für Punkt, was uns da eben an den Kragen wollte. Und wer hat dich zu meinem Leibwächter ernannt? Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie lange ich noch den Unwissenden spielen will."
Der Prinz lächelte. "Ich kann dich ja verstehen. Also gut, ein wenig sollst du erfahren. Zuerst einmal zu unseren Verfolgern. Wie wir gesehen haben, waren sie alles andere als friedlich. Dein sogenannter Schnabeldrache war ein Cheberim . Cheberims sind grässliche Dämonen, die jede beliebige Gestalt annehmen können. Ihr wahres, ursprüngliches Aussehen kennen nur die wenigsten, doch es soll schrecklich sein. Generell greifen sie nicht ohne Grund an, sondern jagen hauptsächlich und schlafen außerdem tagsüber, es sei denn, man richtet sie zur Jagd ab, aber Cheberims sind so unbezähmbar wie kein anderes Lebewesen, dem ich je begegnet bin. Das Exemplar vorhin war sehr schwach, weshalb ich ihn auch so leicht abfertigen konnte. Vermutlich handelte es sich um ein Jungtier. Wir hatten Glück, dass es kein ausgewachsener Dämon war; die sind meistens stärker. Warum er es gerade auf uns abgesehen hatte, will mir nicht in den Kopf. Denn der Grund, weshalb ich auf dich Acht geben soll, ist auch mir nicht wirklich bewusst."
Caspar lächelte etwas verzerrt. "Vielleicht hatte er einfach mal Lust auf etwas Neues, oder er wurde tatsächlich abgerichtet."
Eldrit nickte.
"Ich sehe, du machst dir Gedanken darüber. Wenn du Recht hättest, dass er abgerichtet worden wäre, dann muss uns das zu denken geben, denn wer solch mächtige Wesen wie Cheberims unter seine Kontrolle bringen kann, der hat selbst eine noch viel größere Macht. Und was den abweichenden Appetit angeht, auf den du anspielst: Cheberims verspeisen lediglich Waldtiere wie Hirsche, Eulen oder gelegentlich mal einen Fuchs. An Menschen sind sie gar nicht interessiert, das Fleisch wäre zu zäh."
Caspar sprang empört auf: "Na hör mal! Mein Fleisch ist vielleicht alt, aber immer noch erstklassig!"
Eldrit lachte leise.
"Bitte, tu dir keinen Zwang an. Du kannst gern zurück und dich als Mittagessen anbieten. Das würde ich allerdings an deiner Stelle lassen. Denn du scheinst aus einem mir unbekannten Grund wenigstens bei diesem einen Cheberim ein gewisses Interesse zu wecken. Vielleicht ist ja auch das der Grund, weshalb ich dir als Leibwächter zugeteilt wurde."
"Und wie finden wir das nun raus?" fragte Caspar wissbegierig.
Eldrit stand auf. "Lass uns erst mal schlafen gehen. Wir sollten noch ein wenig Zeit verstreichen lassen, bevor wir zum Strand zurückfahren. Und später lässt sich immer noch über das Problem nachdenken.“
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