Neben der Haustür lag seine Pfeife. Auf ausgedehnten Spaziergängen am Strand oder noch lieber entlang der Bucht, wo weniger Menschen waren, gönnte Caspar sich gerne ein paar Züge aus diesem schmuckvoll verzierten Erbstück. Er steckte sie sich in den Mund, um seine gespannte Erwartung zumindest an ihr auslassen zu können.
Das Städtchen schlief tief und friedlich. Der Alte ließ seinen Blick über die Dächer schweifen, sog die eisige Luft ein und fühlte sich bereit. Mit dem Blick auf den Leuchtturm gerichtet, stieg er die Stufen zum Strand hinunter. Dort lag in einiger Entfernung sein kleines Schiff vor Anker, die Cerpat . Gepflegt sah sie aus mit ihren Segeln und ihrer matt weiß glänzenden Lackierung. Unzählige Male schon war er damit unterwegs gewesen, hatte fremde Länder gesehen und das raue Leben auf See genossen. Nun aber machte sich das Alter bei ihm bemerkbar und er war gezwungen, sich demnächst zur Ruhe zu setzen.
Plötzlich fiel ihm eine Bewegung im Schatten einer hohen Böschung auf. Er erkannte die Gestalt, die dort stand. Es war Pépe, sein ehemaliger Schiffsjunge.
"Hallo“, sagte Caspar mit freundlicher Stimme. "Was treibt dich denn um diese nachtschlafende Zeit hierher, du Leichtmatrose?"
Der Schiffsjunge antwortete nicht. Er starrte ihn nur an. Caspar wurde langsam etwas kühl in seinem Bademantel.
"Komm, Junge, es ist doch kalt hier. Lass uns reingehen."
Der Schiffsjunge blieb stumm. Seine stahlblauen Augen durchdrangen den Alten. Ihm wurde es gruselig zumute und er bewegte sich langsam einen Schritt auf Pépe zu.
"Komm doch endlich, beim Klabautermann! Du erkältest dich noch."
Noch immer keine Regung. Caspar wurde nun sichtlich ungeduldig und streckte eine Hand nach der Schulter des Jungen aus.
"Komm gefälligst mit, Menschenskind..."
Mitten im Satz stockte ihm der Atem. Die Pfeife fiel ihm aus dem Mund in den weichen Sand. Der Schiffsjunge war aus dem Schatten hervor gekommen und hatte den Kapitän an der Kehle gepackt. Immer fester schloss sich die für einen fleißigen Schiffsjungen eigentlich zu kindlich aussehende Hand um den stämmigen Nacken des Alten. Nun, im Mondlicht, war der hagere Pépe viel besser zu erkennen. Sein kurzes schwarzes Haar stand in alle Richtungen ab; seine stahlblauen Augen blickten wie in Trance durch Caspar hindurch und seine Kleidung bestand nur aus Lumpen. Vom reinen Aussehen her wog er höchstens halb soviel wie sein Opfer.
Caspar rang nach Luft und keuchte ein heiseres "Wer... bist ... du...?", während sich die Hand immer fester um seinen Hals schloss.
Dann aber atmete er erleichtert auf, während sein Körper zu Boden sackte. Der Schiffsjunge hatte unfreiwillig den Griff lockern müssen, und der Alte sah nach einem kurzen Kopfschütteln auch den Grund. Zwischen ihm und dem mordlüsternen Pépe mit der Kindeshand stand eine groß gewachsene Gestalt. Ihr Mantel wehte schwarzgold im nächtlichen Wind und trug einen Hauch von Seetang und Fisch mit sich, als wäre sie geradewegs aus dem Meer gekommen. In Windeseile nach seiner Pfeife tastend, ließ Caspar diesen fremden Lebensretter nicht aus den Augen. Inzwischen hatte sich eine dicke Wolkenformation vor den Mond geschoben. Doch die schwarzgoldene Gestalt war keineswegs zu verfehlen, da ein seltsames Leuchten von dem Mantel ausging. Es versetzte den Alten in eine Art Rauschzustand, wie er ihn nur von gelegentlichen Besuchen in der örtlichen Hafenspelunke kannte. Dennoch bekam er alles mit, was um ihn herum geschah. Er versuchte, das Gesicht des Fremden zu erhaschen, aber außer seinen dunklen grünen Haaren, die bis zu den breiten Schultern reichten, und spitzen Ohren, die in einem halbwegs glatten Gesicht endeten, war nichts sonst zu erkennen.
"Scher dich fort, was immer du sein magst. Greif deinesgleichen an, aber nicht ihn hier!"
Eine Reibeisenstimme ließ Caspar zusammen zucken. Sie kam von dem Lebensretter.
Eine leisere, beinah greinende Stimme erwiderte: "Verzeiht, Herr. Es wird gewiss nicht mehr passieren, Herr.“
Der Schiffsjunge verbeugte sich tief, sah aber verschlagen zu dem Gesicht des Fremden hoch und seine Augen blitzten auf. Caspar stürzte zu seinem Retter und schubste ihn zur Seite. Im rechten Augenblick, denn just in dem Moment erwischte den Alten die andere Hand des Schiffsjungen, ein zerfurchter Klumpen Haut geballt zu einer Faust. In hohem Bogen und mit einem Schmerzensschrei flog der Kapitän gegen eine Felskante ganz in der Nähe und blieb liegen. Der schwarzgolden verhüllte Mann stand auf und sah von dem Verletzten hinüber zum Attentäter. Dieser sah den Fremden an und lachte auf eine unmenschliche Art.
Mit wütender, keine Gnade kennender Stimme sprach der Fremde:
"Ich verfluche dich, du Monstrum. Wenn du ihm ernsthafte Schäden beigebracht haben solltest, wirst du unser nächstes Treffen nicht überleben. Und nun mach dich fort mit deinen Entstellungen. Euer Volk bekommt ihn nicht, und kein anderes Volk wird ihn bekommen. Richte das deinen Auftraggebern aus!“
Lachen tönte abermals aus dem Mund des Schiffsjungen, und er geiferte. Mit der gehobenen Kindeshand als Zeichen des Abschieds sprang er in die Schatten der Nacht und war verschwunden. Schnell besann sich der Große und eilte zu Caspar. Behutsam hob er ihn auf seine Schultern und ging langsamen Schrittes den Weg hinauf zu Caspars Haus, fand die Haustür unverschlossen vor, legte ihn aufs Sofa und setzte sich neben ihn.
Das Haus stand so günstig auf der Küstenklippe, dass am nächsten Vormittag ein paar Sonnenstrahlen durchs Fenster schlüpften und Caspar, der immer noch auf dem Sofa lag, an der Nase kitzelten. Mit einem heftigen Nieser wachte er auf. Sofort fiel ihm die vergangene Nacht wieder ein und er fasste sich an den Kopf. Zu seiner Verwunderung aber war dieser verbunden. Er schaute sich um, entdeckte aber nichts und niemanden. Ein zweites Mal wanderte sein Blick durch den Raum, blieb dieses Mal allerdings an dem Durchgang zur Küche hängen. Denn dort stand plötzlich sein Lebensretter und lächelte. Verwundert und wortlos saß Caspar einfach nur da und sah den Mann an, der immer noch unverändert lächelnd in seinem schwarzgoldenen Mantel stand wie ein halber Riese. Langsam kam er näher ans Sofa heran und setzte sich schließlich auf die Lehne.
"Nun, wie fühlen wir uns heute? Tut der Kopf noch sehr weh?"
Die Reibeisenstimme hatte wieder gesprochen. Und nun, da dieser Fremde so dicht und bei Sonnenschein vor ihm stand, konnte Caspar auch endlich das Gesicht seines Retters genauer in Augenschein nehmen. Abgesehen von den grünen Haaren und spitzen Ohren, die er schon in der vergangenen Nacht entdeckt hatte, sah man jetzt, dass der Fremde ein ziemlich schmales Gesicht besaß. Eine hohe Stirn reichte bis zu buschigen Augenbrauen, die ebenso grün waren wie die Haarpracht. Geheimnisvolle Augen, deren Farbe nicht festzustellen war, ließen darauf schließen, dass sie schon viel gesehen hatten. Die Beschaffenheit der teils grün schimmernden, teils menschlich rosa wirkenden Haut, die er schon nachts bemerkt hatte, gab ihm nun noch mehr zu denken. Manchmal schien sie eher glatt zu sein; bewegte der Fremde jedoch seinen Kopf nur ein wenig nach rechts oder links, meinte man, die Haut wäre zerfurcht von einigen Narben. Der restliche Körper wurde von dem schimmernden Mantel des Fremden verdeckt und noch immer war ein Duft aus dem Meer wahrnehmbar. Caspar war überzeugt, kein menschliches Wesen vor sich zu haben. Der Fremde stand auf und verneigte sich.
"Verzeih, wie konnte ich nur meine guten Manieren vernachlässigen? Mein Name ist Eldrit, ich bin ein Trollenprinz vom Volk der Edeltrolle und dein guter Geist."
Der Kapitän nickte nur und erwiderte leise:
"Angenehm. Mein Name ist Caspar, ich bin ein alter Seebär, gehöre bald zum alten Eisen und bin nicht im Bilde, was hier vor sich geht. Gestern Nacht zog mich irgendwas aus meinem Bett, ich ging zum Strand, traf auf Pépe, einen eigentlich recht freundlichen Schiffsjungen, der mir oftmals auf meinen Reisen zur Seite stand und der demnächst unter neuer Anleitung zu einem guten Matrosen hätte werden können. Doch dann griff er mich an und auf einmal warst du da und ich blicke nun überhaupt nicht mehr durch. Ich dachte, Trolle und dergleichen gibt es nur im Märchen. Und was soll das mit dem guten Geist? Du musst mir wohl einiges erklären, Eldrit."
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