Pardenfese war weitaus mehr als das, was der Werwolf preisgab. Vor allem war es die Heimat der Uredan, zu denen auch Narbenkralle gehörte. Die Uredan konnten sich in verschiedene Tiere verwandeln, was in der Regel von ihrer emotionalen Verfassung abhing. So konnte ein Adler, wenn er wütend wurde, schnell zu einem Bären mutieren und ein ängstlicher Elefant schrumpfte in Sekunden zu einem piepsenden Küken. Viele der Uredan, so auch Narbenkralle, hatten aber nur zwei oder drei Tiergestalten, in die sie sich verwandeln konnten, was erblich bedingt war. So war die Gestalt eines Werwolfs nicht unbedingt ein Anzeichen für Wut. Im Fall von Narbenkralle war es sogar seine alltägliche Gestalt, mit der er sich fortbewegte. Es gab allerdings auch Vertreter der Uredan mit mehr als drei Verwandlungsformen. Diese waren dann entweder von Anfang an als Auserwählte vorgesehen und hoch angesehen oder es handelte sich einfach um eine Laune der Natur. Weil die Uredan für ihre Verwandlungen bekannt, aber auch gefürchtet waren, nannte man sie häufig nur die Vielgestaltigen . Viele Uredan lebten die ersten Jahre ohne Namen, bis sich ein bestimmter Umstand oder ein bestimmtes Gefühl geprägt hatte. Narbenkralle hatte in frühester Kindheit Streifzüge durch die Wildnis unternommen, wobei er viele wilde Tiere mit seinen messerscharfen Krallen erlegte. Meist hatte seine Mutter einen ganzen Nachmittag damit verbracht, seine Wunden zu versorgen. Viele ließen sich nicht heilen, weshalb bald manche Körperstellen mit Narben übersät waren. Erst zu diesem Zeitpunkt hatte er seinen Namen erhalten. Pardenfese war aber nicht nur die Heimat der Vielgestaltigen, sondern auch Zufluchtsort für Träumer, geflohene Häftlinge und allerlei Tagediebe. Doch auch Reisende kamen gerne hierher, angelockt von der Fülle der Natur. Die Wildnis war wie eine Stadtmauer und man konnte sich auf vielen Hügeln und Bergen austoben. Verschiedenste Bäume standen kreuz und quer in der Landschaft, viele Häuser waren meist nur durch einen Busch getrennt. Auf einem der höchsten Hügel am Rand von Pardenfese befand sich eine Höhle, die von der Stadt aus sichtbar war. Dort befand sich der Eingang zur Stadt, aus dem auch Felina, Fegat und Narbenkralle kamen, als sie aus der Regenbogenröhre kletterten, die sich hinter ihnen schloss. Felina fühlte sich für einen Augenblick in die unendliche Finsternis zurückversetzt, in der sie auf Nigma und seinen haarigen Freund gestoßen war. Doch schon nach wenigen Schritten tat sich vor ihr die gewaltige Pracht von Pardenfese auf. Sie staunte nicht schlecht, als sie von ihrem Standpunkt aus den ganzen Wald überblicken konnte, welcher sich in einem Talkessel befand. Und als sie hinter dem hintersten Berg noch mal einen anderen Urwald sah, der wiederum in einem Talkessel lag, staunte sie umso mehr. Genau genommen sah Felina unglaublich viele Wälder in unglaublich vielen Talkesseln und der ganze Anblick erstreckte sich bis zum Horizont. Und von der Höhle, aus der sie nun kamen, führte ein gepflasterter Weg in den Wald hinein, der am nächsten lag. Die Luft war beruhigend, warm und feucht zugleich. Und dort, zwischen all den Bäumen, Ranken, Büschen und anderen Gewächsen, konnte sie nun auch die Häuser erkennen. Sie waren stämmig gebaut, manche größer als die Bäume, manche waren winzig wie eine Erbse und aus der Entfernung kaum erkennbar; lediglich ein Rauchstreifen hier und da ließ vermuten, dass sich dort Häuser mit Schornsteinen befanden. Plötzlich wäre Felina beinahe den Abhang hinunter gefallen, der ins Tal führte, wenn Narbenkralle sie nicht festgehalten hätte. Der Grund für ihre Unachtsamkeit war die Entdeckung der Uredan, der Vielgestaltigen . Überall tummelten sich kleine und große Tiere, Fabelwesen und vollkommen skurrile Lebensformen. Da gab es Einhörner, die zwei goldene Hörner auf ihrer Stirn trugen. Fegat erklärte, dass diese Wesen Zweihörner genannt wurden. Es gab Elefanten, Werwölfe mit unterschiedlichen Fellfarben, Schlangen, Lindwürmer, Drachen in den unterschiedlichsten Formen, Wespen, Giraffen, Büffel und einfach alles, was an tierischen Lebensformen nur denkbar gewesen wäre. Doch egal, wie verschieden sie aussahen, in einem glichen sich alle: Sie gingen auf zwei Beinen. Selbst einige Schlangen hatten so etwas wie Beine, die beinahe den Tentakeln eines Tintenfischs glichen. Nur die flugfähigen Tiere liefen nicht immer. Während Felina noch am Eingang der Höhle stand und ihre Begleiter neben ihr, kam plötzlich ein Schildkröterich langsamen Schrittes auf sie zu; er schien keine Mühe zu haben, den Abhang zu besteigen. Geduldig warteten die drei, bis er schließlich oben ankam. Sein dunkelgrüner Panzer war von einigen Mustern und Symbolen überzogen und seine wie aus grauer Vorzeit übrig gebliebenen Augen sahen jeden von ihnen weise an. Mit rauer, heller Stimme begann er zu sprechen.
"Seid willkommen in Pardenfese. Fegat, Narbenkralle, ich hoffe, ihr hattet eine gute Reise. Und einen Gast habt ihr auch mitgebracht. Ich grüße dich. Mein Name ist Kudwan Melinar und ich habe die Aufsicht über den ersten Wald. Fühl dich wie zuhause und leiste uns Gesellschaft.“
Narbenkralle und Fegat verneigten sich tief vor dem Aufseher, deshalb wollte Felina nicht unhöflich erscheinen und tat es ihnen gleich. Dann folgten sie Kudwan auf dem Weg hinunter ins Tal.
Die Erzählungen der Seherin
Eldrit und die anderen waren nach der Begegnung mit Gheratij wieder in Bewegung. Sie hatten sich von dem Schrecken erholt, den ihnen das grausige Geschöpf beschert hatte, und gingen auf dem Pfad weiter, der augenscheinlich zu dem gigantischen Schloss führte, welches dort immer noch weit vor ihnen im Nebel lag. Keiner von ihnen wagte auszusprechen, was sie machen sollten, falls Caspar nicht im Schloss zu finden sei, denn keiner von ihnen wollte die Hoffnung in den Herzen der anderen senken. Und dennoch dachten alle daran, dass ihre Suche im Schloss erfolglos enden könnte. In den langen Stunden, seit denen sie durch den Baum in Caspars Vorgarten in diese Welt gekommen waren, waren sie sich rasch einig geworden, dass niemand von ihnen je auch nur einen Fuß in diese Welt gesetzt hatte. Schon oft, seit sie unterwegs waren, hatten sie des Nachts ihre Lage besprochen und waren immer zum selben Schluss gekommen. Wenn sie Caspar wirklich wiedergefunden hatten, was angesichts dieser großen und unbekannten Welt sehr zeitaufwendig zu werden schien, wollten sie sich direkt auf dem schnellsten Wege nach Hause aufmachen, um die angekündigte Ankunft des Schützlings zu erwarten.
Soeben hatte Eldrit noch darüber nachgedacht, wie es Caspar wohl ergehen mochte, als ein Stück weit vor der wandernden Gemeinschaft plötzlich ein Schatten im Nebel sichtbar wurde. Eine undeutliche Gestalt zeichnete sich dort ab, die nur langsam an Kontur gewann. Eldrit und Yhildrat hielten wieder ihre Waffen bereit und gingen vor Gumbol, dem Stillen und dem bisher namenlosen Räuber.
"Welch seltene Gäste. Schau einer an, schau einer an. Überrascht bin ich dennoch nicht, da ich mir so etwas dachte, seit sie diesen alten Brummbären hier vorbeibrachten. Gegrüßt seid ihr, werte Fremde. Gewiss seid ihr weit gereist.“
Die fünf Gefährten sahen sich verblüfft an. Woher wusste dieses Wesen mit der sanften Stimme von Caspar? Womöglich hatte sie sogar gesehen, wohin Caspar gebracht wurde. Sofort ging Eldrit auf die Schattengestalt zu. Wie er schnell bemerkte, befand sich dort im lichter werdenden Nebel ein etwas größerer Felsen, auf dem zum Erstaunen des Edelprinzen ein Rehkitz saß, doch es sah nicht gewöhnlich aus. Vielmehr bestand es zu einem gewissen Teil aus menschlichen Gliedmaßen, was es dazu befähigte, leicht aufrecht auf dem Felsen zu sitzen und sich mit einem Arm aufzustützen. Eldrit betrachtete das Wesen genau. Vieles hatte er schon gesehen auf seinen Reisen, aber solche Mischwesen, halb Mensch, halb Tier, hatte er nur sehr selten erblickt. Der Kopf des Rehkitzes war beinahe menschlich; tiefschwarze Augen blickten den Trollenprinz sehnsüchtig an, gerade so, als hätte dieses Geschöpf sein Leben lang nur auf ihn, Eldrit, gewartet; die Ohren waren denen eines jungen Kitzes ähnlich; der Oberkörper war hauptsächlich menschlich, und die jungen Brüste wurden lediglich von einer seichten Schicht hellbraunen Fells verhüllt; die Arme waren zierlich und mit braunem Fell bedeckt, endeten aber wieder in Menschenhänden. Der Unterkörper war hauptsächlich von tierischer Gestalt; statt Füßen besaß die junge Schönheit Hufe, die lässig vom Felsen herabhingen. Eldrit konnte seine Blicke kaum von ihr nehmen, so anmutig und wunderbar war sie anzusehen. Doch schnell kamen seine Erinnerungen wieder, denn er war nicht durch einen Baum gestiegen, um hier in einer fremden Welt auf ein Rehmädchen zu stoßen, das ihn betörte. Er war ein Trollenprinz und immer noch auf der Suche nach Caspar, der hier verschollen war. Und so stellte Eldrit denn auch rasch die Frage, weswegen er vor dem Rehmädchen stand.
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