Ein lautes Wolfsheulen riss Felina aus ihrem Schlaf. Es war mitten in der Nacht, doch der Mond schien nur blass durch den Nebel. Es war bereits die vierte Nacht, seit sie Abschied von Nigma genommen hatte. Felina versuchte wieder einzuschlafen, aber es nützte nichts. Sie blieb wach, zudem wusste sie nicht, was sie gegen einen Wolf ausrichten konnte. Alles, was sie bei sich hatte, war das Bündel Süßbrot, wie sie es nannte. Es war noch viel da, denn sie teilte gut ein. Felina stand auf und wischte sich die Erdkrümel vom Kleid. Dann schaute sie sich um. Das dunkle Versteck von Nigma war längst ihren Blicken entzogen, doch wusste sie noch ungefähr seinen Standort. Die letzten Tage war sie geradeaus weiter gegangen, vor ihr war dennoch nichts anderes zu sehen als immer nur Nebel, braune Erde und manchmal ein bisschen Unkraut. In allen Himmelsrichtungen war es das selbe, lediglich rechts von ihrem Standpunkt ging es leicht bergauf und war stufenweise mit mehr Unkraut bestückt. Zum zweiten Mal heulte der Wolf, was für Felina nun wirklich Grund genug war, weiter zu gehen. Sie schnappte sich ihr Bündel und wanderte los. Doch sehr weit kam sie nicht. Ein paar Meter weiter hielt sie ein Fluss auf, der fröhlich durch das Land plätscherte. Sie nahm ein wenig Anlauf und sprang vom Rand hinüber zum anderen Ufer. Doch ihre Füße kamen nicht auf die gegenüber liegende Erde. Felina rutschte ab und konnte sich gerade noch mit einer Hand in die Erde vergreifen. Unter ihr rauschte das Wasser, ihre Füße bekamen eine Dusche. Verbissen hielt sie das Bündel mit dem Brot fest, denn sie wollte nicht verhungern in dieser Einöde. Unter großer Kraftanstrengung zog sie sich an Land. Schnell legte sie das Bündel nieder und riss ein Stück davon ab. Einem Geistesblitz folgend, funktionierte sie den Fetzen zu einem kleinen Beutel um und hielt ihn ins Wasser. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich ein breites Lächeln ab. Sie zog den mit Wasser gefüllten Beutel heraus und befestigte ihn an ihrem Kleid. Das Bündel ordentlich gepackt, machte sie sich mit nassen Füßen wieder auf die Suche nach einem Ort, wo sie Unterschlupf und möglicherweise Hilfe finden konnte. Auch sehnte sie sich nach Gesellschaft, da diese einsame Wanderung nichts für sie war.
Es war bereits später Vormittag, als sie bemerkte, dass ihr jemand folgte. Der Nebel schützte ihn zu gut. Ein heller Singsang ließ Felina zusammenzucken. Der Singsang hörte sich an wie ein Kinderlied und wurde von einem wasserähnlichen Gurgeln untermalt. Felina sah sich zitternd um, konnte aber die Quelle der Stimme nicht entdecken.
"Hallo, ich heiße Felina, und habe mich verirrt. Ich suche ein Dorf oder eine Stadt. Mir ist kalt, und meine Vorräte reichen nur für ein paar Tage. Darf ich fragen, wer du bist?"
"Fegat, ja, so heiß ich."
Felina freute sich, scheinbar endlich einen Gefährten gefunden zu haben. Vorsichtig blieb sie trotzdem, denn es konnte genauso gut ein Schurke sein.
"Kannst du mich denn irgendwo hin bringen, Fegat?"
Doch Fegat antwortete nicht. Stattdessen sah sie direkt vor sich im Nebel ein blau schimmerndes Licht. Es trieb in den Schwaden hin und her.
"Ich verstehe das mal als ein Ja und folge dir."
Rasch lief sie dem Licht nach, welches sich nun fortbewegte. Fegat schien sich einen Spaß mit Felina zu erlauben, denn das Licht schlug Haken wie ein Hase und bewegte sich im Zickzack fort. Felina fand es aber mindestens genauso lustig und konnte ihr herzliches Lachen nicht lange zurück halten. Lange hatte sie nicht mehr solch einen Spaß gehabt. Schließlich lachten sie beide, die helle gurgelnde Stimme von Fegat und die klare sanfte Stimme von Felina.
"In der Nähe befindet sich eine Stadt", sprach Fegat mit seiner gurgelnden Stimme. "Ich habe selbst keine wirkliche Orientierung, aber diese Stadt riecht vertraut. Lass uns hin gehen und dort etwas essen. Anschließend suchen wir jemanden, der dir helfen kann."
Felina machte vor Freude einen Luftsprung. "Das ist ja wunderbar! Ich danke dir, Fegat. Ohne dich wäre ich sicher immer noch ziellos durch den Nebel gegangen."
Fegat kicherte vergnügt. So gingen sie also weiter durch den Nebel, der sich nach und nach auflöste. Immer klarer konnten sie nun die Umrisse der großen Stadt sehen, die majestätisch auf einem Hügel stand. Felina wandte ihren Blick jetzt öfter nach rechts, denn sie hatte wieder dieses Verlangen, das sie schon bei Nigma in der Dunkelheit verspürt hatte: Sie wollte ihren Gefährten zu Gesicht bekommen. Doch so stark sie auch hin sah, es wollten sich einfach keine genaueren Umrisse erkennen lassen.
"Fegat, bist du noch da?"
"Natürlich, Felina. Ich bin hier."
Dem Gehör nach kam die Stimme von links. Sofort riss sie ihren Kopf herum. Mitten im Nebel vor sich sah sie zwei kugelrunde blaue Augen, die keine Pupillen zu haben schienen. Sie wurden umgeben von einer schwarzen Silhouette, die wie ein erwachsener Mann aussah.
Mit leiser Stimme hauchte sie: "Darf ich dich sehen, Fegat?"
"Gewiss darfst du das."
Mit diesen Worten kam Fegat durch den Nebel auf sie zu. Immer deutlicher wurden seine Gliedmaßen. Seine Arme waren blau und mit einem dunkelblauen Tupfenmuster verziert. Seine Beine schimmerten himmelblau, während sie sich bewegten. Seine Füße waren genauso nackt wie die von Felina und hatten den selben Blauschimmer wie die Beine. Während er ging, wurde sein Umriss immer kleiner, bis er nur noch etwas größer als sie war. Schließlich kam sein Kopf zum Vorschein, einem Fisch nicht unähnlich. Eine große blaue Flosse stand senkrecht wie bei einem Irokesen auf seinem etwas helleren Kopf, je links und rechts waren zwei kleinere. Das Gesicht selber sah verhältnismäßig menschlich aus und er blickte Felina aus den frechen blauen Augen an. Nun konnte sie auch die winzig kleinen schwärzlichen Pupillen erkennen. Wie er da so stand, sah er nicht viel älter als neunzehn aus.
Fegat machte plötzlich eine Verbeugung und nahm ihre Hand. "Sei mir gegrüßt, Felina. Ich heiße wie gesagt Fegat und bin vom Stamm der Harpan. Es ist mir eine Ehre, dich endlich richtig sehen zu können."
Felina musste schmunzeln. "Also war das blaue Licht, das ich sah, eines deiner Augen?"
"Ein Licht? Nein, ich war das nicht. Ich bin immer neben dir gelaufen. Das war bestimmt mein Freund Narbenkralle. Er hat die besten Augen, wenn es um das Durchqueren des Nebels geht. Er ist bestimmt vorgegangen und erwartet uns. Los, lass uns gehen."
Und sie liefen den Hügel hinauf, der aus schwarzer Erde bestand. Rund um die Stadt wuchsen viele Bäume, Beerensträucher und auch Unkraut. Felinas Augen aber waren hauptsächlich auf die Stadt gerichtet. Sie wurde von einer hohen Mauer umgeben, die in der Mittagssonne rotgelb glitzerte. Das Stadttor war unglaublich hoch, mindestens sechzig Meter, und hatte goldene Verzierungen, die sich einer Efeuranke gleich über das gesamte Tor emporwanden. Es stand nur einen kleinen Spalt offen, doch angesichts der Größe reichte dieser Spalt vollkommen aus, um sieben Menschen nebeneinander hindurch zu lassen. Felina und Fegat betraten die Stadt, und sofort bot sich ihnen ein Anblick von märchenhaften Ausmaßen. Grün leuchtende Häuser mit weißen Dächern standen nebeneinander, auf den Straßen und Wegen liefen viele Menschen und gingen wahrscheinlich ihrem Tagewerk nach. Es duftete wunderbar nach Äpfeln und Erdbeeren, nach frischer Milch und kürzlich gebackenem Brot. Felina fielen beinahe die Augen heraus, so sehr staunte sie über die Vielfalt an Geschäften und Gasthäusern. Wie ein Kind im Süßwarenladen lief sie entzückt umher und sah sich alles an, was in Reichweite war. Es gab Eisverkäufer, Glasbläser, Hufschmiede und sogar eine Bäckerei für Süßbrot, welches in Wahrheit Berriba hieß. Sofort wollte Felina einen neuen Vorrat dieser Köstlichkeit kaufen, und sie rannte zu Fegat zurück, um ihn nach Geld zu fragen. Doch als sie auf ihn zu ging, stand ein großer Mann in einem weitem Gewand und einem großen Hut vor ihm und sie unterhielten sich. Felina ging langsam näher.
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