»So jemand wie ich?«
»Definitiv so jemand wie du.«
»Ist also kein Zufall, dass ich hier bin?«
»Definitiv kein Zufall. Der Körper geht stiften, der Geist gleich hinterher.«
»Der Körper geht stiften?«
»Na, wie du dieses Schlafen als Delfin beschreibst. Da schützt sich der Körper doch, er haut ab. Sekunde für Sekunde.«
So habe ich da noch nicht gesehen. Mein Körper haut ab!
Rubens Stimme wird etwas leiser: »Morris zum Beispiel war völlig am Ende, als er hier zum ersten Mal saß. Sein Körper hatte aber schon erheblich schlapp gemacht, mit Migräne, Magengeschwür und Kreislaufkollaps deutliche Signale gesandt. Vor etwas über einem Jahr ist er hier aufgetaucht. Bestellte bei Carl eine Currywurst mit Pommes. Ist genauso, wenn bei Dittsche einer reinkommen würde und glaubt, dass wäre eine echte Imbissbude. Carl bot ihm einen Stuhl an, Morris setzte sich. Sein Kopf fiel nach vorn auf den Tisch und er hat dann erstmal ein Stündchen geschlummert. Er ist inzwischen bekannt wie ein bunter Hund. Eine Menge Leute sind hier inzwischen gewesen und haben sich Rat von ihm geholt.«
Jetzt bin ich aber neugierig: »Welchen Rat kann man denn von Morris bekommen?«
Ruben hebt beide Hände, zuckt mit den Schultern. Als Expertin für Körpersprache würde ich sagen: Er hat keine Ahnung.
Orale Bestätigung von Ruben: »Keine Ahnung.«
Bingo. Wolltest du aber nicht mehr denken, Mia-Herzchen.
»Wenn die Menschen hier reinmaschieren, fragen sie öfter nach Morris. Und schwupp, sitzen sie am Tisch, ins Gespräch vertieft. Nach einer halben Stunde oder länger stehen sie wieder auf, erleichtert, zufrieden, fast glücklich.«
Ich könnte mir auch so eine Morris-Beratung vorstellen. Ich will doch, verdammt noch mal, auch glücklich werden. »Wenn wir schon mal dabei sind: Wieso erzählst du mir eigentlich hier die ganze Morris-Story? Ist doch viel zu intim, seine privaten Geschichten vor mir auszubreiten.«
»Erlaubnis von Morris höchstselbst!«
»Und zu was soll das gut sein?«
»Vielleicht als Ermutigung im Sinne von: Anderen ging es auch schon mal schlecht. Und sie haben davon erzählt, hier in der Heimat.«
»Dann wurde alles wieder gut?«
»Hängt vom Einzelfall ab.«
Scheiße, das kommt mir bekannt vor. »Die beschissene Coachmasche also: Du bist für die selbstverantwortlich, ich unterstütze und begleite dich. Blablabla. Ich kotze gleich.«
Ruben schaut mich besorgt an: »Ist ja gut. Alles okay. Genug für heute?«
»Ja, genug für heute.«
Donnerstag
Innen. Arztpraxis. Tag.
Mein Arzt ist ein guter. Er schickt mich gleich ganz nach hinten. Dort ist für mich das Sprechzimmer im eigentlichen Sinne: Hier wird gesprochen, denn meine Arzt hat jetzt Sprechstunde für mich. Nicht Untersuchungsstunde.
Er schaut mich ernst an: »Die Blutwerte sind okay. Bis auf eine Ausnahme: Ein hoher Methylphenidat-Wert. Sie nehmen Ritalin oder? Verschrieben hatte ich das aber nicht.«
»Erwischt, Herr Doktor. Bin einfach hyperaktiv. Diese Diagnose liegt schon etwas zurück. Wurde in der Mittelstufe öffentlich. Ich da noch einige Vorräte. An Ritalin, meine ich.«
»Sie sind ja ein kluges Mädchen. Deshalb muss ich ihnen sagen, dass Ritalin nach zwei Wochen Einnahme abhängig macht und Nebenwirkungen ohne Ende produziert.«
»Als da wären?«
»Verminderter Appetit, Kopfschmerzen, Mundtrockenheit und Übelkeit. Nervosität und Schlaflosigkeit …«
»Schlaflosigkeit ist gar kein Ausdruck, was mir da nebenwirkungstechnisch so passiert.«
Biep, biep. Mein Chef scheint zu fühlen, dass ich erreichbar bin. Seine Mail pusht auf mein iPhone: SgFr Schütz, ich habe ihre Abwesenheitsmeldung erhalten. Die dringenden Aufgaben heute übernimmt Ihre Kollegin, die jeweiligen Ordner auf den Laufwerken habe ich für die Kollegin frei geschaltet. Gute Besserung.
Fick dich! Nimm' mir doch alles weg, hau' mir die doch Message um die Ohren, die da lautet: Alle Aufgaben sind innerhalb von Minuten an andere zu delegieren. Sie sind überflüssig, kaum das Sie einen Niesreiz in der Nase verspüren! Wir haben Ihre gesamte Kompetenz in die Cloud verlagert! Das hat nur eine Sekunde gedauert, so wenig war es! Gute Besserung, Sie Null!
Ich müsste noch mal rein zum Doc. Für die Überweisung. Ich fange an zu heulen. Es hilft nicht. Überhaupt nicht. Ich will keinen Therapeuten, ich will einen, der mich liebt. Jetzt gleich. Somebody, somebody, ooh somebody, somebody. Can anybody find meeeeeee. Somebody to love ? ( http://www.youtube.com/watch?v=LRt2jX1kaYo).
Das Adrenalin aus meinen Tagträumen erschüttert mich vollständig, knallt mir durch die Venen, schießt mir aus den Ohren. Stresstest. Ich höre da nicht Freddy Mercury, ich bin Freddy Mercury. Mia Freddy Schütz-Mercury. Frauen mit Doppelnamen machen doch schneller Karriere oder? Die Nebenwirkungen meines Delfinschlafens sind ganz eindeutig zu identifizieren. Bei diesem Freddy-Mercury-Traum zum Beispiel. Es gibt fast keinen Unterschied mehr zwischen Traum und Realität.
Egal, was du nimmst, Mia, nimm weniger!
Scheiß auf die Überweisung. Ich habe keine Suizidgedanken. Keine depressiven Verstimmungen. Ich fühle mich topfit. Raus hier. An die Luft. Ich brauche Luft. Zum Atmen.
Innen. Heimat. Bald Nacht.
»Hallo.«
»Hallo.«
»Hallo?«
»Hallo!«
Ich pruste los, vorerst innerlich. Nur kenne ich diesen Hallo-Mann gerade vier Sekunden. Vier Sekunden mit vier Varianten von Hallo. Das ist jetzt mal ein Anfang. Morris ist Morris.
Diese Heimat ist meine Heimat. In der Nacht. Ich war die letzten drei Nächte hier, Nacht 4 macht mich wuschig. Zum ersten Mal schaut mich dieser Morris an. Bang. Bang macht es, holla, die Waldfee. Wo ist der Gefällt-mir-Button bei dir? Ich will draufklicken!
Dann mal ran an den Speck: »Bist du öfter hier?«
»Hm.«
»Den ganzen Abend mit einem Getränk?«
»Hm.«
»Da gibt's mit dir nicht viel zu verdienen oder?«
»Hm.«
Der erwartungsvolle Anfang wird gerade kräftig ins Klo gespült. Der Mann kann außer Hallo nur Hm.
»Ich will dir nicht auf die Nerven gehen.« Doch, ich will dir auf die Nerven gehen. Dir noch einen Satz entlocken, einen ganzen Satz. Letzter Versuch. Ich locke: »Schöne Einrichtung hier.«
»Sei mir nicht böse, ich habe aber noch einiges heute Abend zu tun.« Immerhin, das ist ein Satz. Nicht unbedingt ein Erfolg versprechender, aber ein Satz. Ist einer meiner Lieblingssätze, die da mit Sei mir nicht böse beginnen. Go on working, Mia. Sei nicht böse.
»Ich entwickele mich zum Stammgast. Ist heute meine Nacht Nummer vier.« Jetzt nickt Carl hinter dem Tresen zur Bestätigung. Hört der etwa zu?
Er hat eine angenehme Stimme, dieser Morris. Ist ein Problem bei mir, denn angenehme Stimmen schalten einen Kanal frei. Dann funkt es bei mir. Auf dem Kanal, meine ich. Morris funkt auf meinem Kanal: »Ich für mich würde bestimmt noch bis hundert mitzählen.«
»Sei mir nicht böse, aber für Rechenspielchen fehlt mir heute die Zeit.« Sagt's und stellt sich tatsächlich weg von der Bar. Hat wohl die Sendefrequenz gewechselt: Alpha Bravo Sierra, bin jetzt offline.
Ich luge um die Ecke zu Morris' Tisch. Dabei sollte ich doch so desinteressiert wie möglich erscheinen. Er muss aus der Reserve kommen, nicht ich! Was aber, wenn er dort bleibt? In der Reserve, meine ich. Wo bleibe ich dann? Himmel, Mia, was passiert da gerade mit dir? Du schaltest sämtliche Sicherheitsvorkehrungen ab.
Also mal langsam. Besonnen. Der Kerl schaut dir einmal in die blau-grünen Augen, schmeißt seine tiefe Stimme an und du bist hinüber? Oh, Mamma Mia, Mia!
So wie mein Dialog da gerade gelaufen ist, werde ich es wohl bei Morris kaum zu einer Lebensbeichte schaffen. Oder ich bringe Zeit mit, viel Zeit.
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