Professor Lohenstein hatte eine ziemlich starke Familie; eine Frau, zwei erwachsene Töchter von siebzehn und zwanzig Jahren, einen Sohn von achtzehn und zwei kleinere Kinder, einen Knaben von acht und ein Mädchen von sieben Jahren. Wenn auch nicht in Reichtum, doch in einem gewissen Wohlstand erzogen, war aber der Familie bis jetzt das schwere Wort N a h r u n g s- s o r g e n fremd geblieben; der Professor hatte immer, was man so nennt, ein Haus gemacht und sich in einem Umgangskreis bewegt, der ihnen schon an und für sich eine gewisse Verpflichtung auferlegte, manches mitzumachen, was seinen sonst mehr einfachen Neigungen eben nicht Bedürfnis schien. Das alles sollte, ja m u ß t e sich jetzt ändern, denn wenn er auch aus den Trümmern seines Vermögens nach allen erlittenen Verlusten einen kleinen Teil zu retten vermochte, genügte der nicht, das bisherige Leben fortzuführen. Die Wahl blieb ihm jetzt allein, von Neuem eine Laufbahn mit geringeren Mitteln anzufangen und sich und den Seinen schwere und ungewohnte Entbehrungen an einem Orte aufzuerlegen, wo ihn alles und jedes an frühere und bessere Zeiten erinnerte, oder – es war eine schwere Stunde, in der ihm d a s Bild zum erstenmal vor die Seele stieg – in einem anderen Erdteil, ungekannt, aber auch nicht bemitleidet oder verspottet, ein vollkommen neues L e b e n zu beginnen.
Aber die Frauen? Würden sie den Mühseligkeiten einer so langen Reise, einer Ansiedelung drüben in einem noch wilden Lande gewachsen sein? – Daß er selber die Beschwerden eines solchen Lebens leicht ertragen würde, daran zweifelte er keinen Augenblick; er hatte so viel über Amerika gelesen, sich mit den dortigen Verhältnissen aus allen erschienenen Schriften so vertraut gemacht, daß er alles kannte, was ihn dort erwartete, und einem derartigen Wirken eher mit Freude und Lust, als Bangen entgegenging. Aber durfte er seine Frau all’ den sie erwartenden Unbequemlichkeiten und Strapazen aussetzen? Durfte er seine Töchter aus ihrem geselligen, glücklichen Leben reißen und ihnen mit einem Schlage alle jene Vergnügungen entziehen, die ihnen hier schon mehr als Erholung, die ihnen fast Bedürfnis geworden?
Einen langen und schweren Kampf kämpfte er mit sich selber monatelang, und er wurde alt in der Zeit, die Augen lagen tief in ihren Höhlen, und seine Züge bekamen etwas Mattes und Abgespanntes, das sie sonst, in seiner schwersten Arbeitszeit noch nie gehabt. Wenn auch die Kinder sich leicht mit einem vorgeschützten Unwohlsein beruhigen ließen, dem scharfen Blick der Gattin entging die Sorge nicht, die an seinem Herzen heimlich, aber desto gewaltiger nagte, und ihren dringenden, ängstlichen Bitten konnte er zuletzt nicht länger widerstehen. Was sie doch zuletzt hätte erfahren m ü s s e n, vertraute er ihr an, und wenn es die arme Frau auch wie ein Schlag aus heiterem Himmel traf, nahm sie das Ganze doch viel ruhiger auf, als er erwartet, gefürchtet, und damit eine schwere Last von s e i n e m Herzen – auf das ihre.
Aber leichter trägt sich die geteilte, und bereden konnten sie jetzt zusammen, was zu tun, welchen Weg zu gehen, die Möglichkeit zu besprechen, die sich hier ihrem Leben bot, die Möglichkeit erwägen, die ihnen dort eine andere, freiere Zukunft öffnete. Und die Kinder? Wohin Mutter und Vater gingen, folgte die ja gern; nur die Szene wechselte für sie, anderen, vielleicht selbst bunteren Bildern Raum zu geben, und Kummer und Sorge kannten die ja nicht.
An demselben Abend waren die beiden ältesten Töchter zu einem kleinen Fest, dem Geburtstag einer Freundin, eingeladen, und hatten schon den ganzen Tag mit rastlosen Fingern an dem bunten, blitzenden Ballstaat genäht. Der Vater begleitete sie dorthin, nur die Mutter blieb daheim, Kopfschmerz und die Sorge um das jüngste Kind vorschützend, das mit einem leichten Unwohlsein in seinem Bettchen lag. Aber gegen zehn Uhr schlummerte es sanft und ruhig auf dem weichen Lager ein, und daneben, das sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, saß die Mutter und weinte – weinte, als ob sie mit dieser Tränenflut all’ den Gram und Kummer fortwaschen wollte, der jetzt, ein dunkler Wolkensaum, am Horizont ihres Glücks erschien, und wild und drohend höher und höher stieg.
Lachend und plaudernd kehrten die Töchter mit dem Vater spät in der Nacht zurück; den leichten, sorglosen Herzen lag die Welt noch wie ein weiter Garten offen da, und was etwa an wuchernden Giftpflanzen dazwischen stand, mischte noch sein saftgrünes Laub, dem jungen Auge nicht erkennbar, mit Blumen- und Blütenpracht.
Aber der Moment näherte sich auch, wo mit der vorgerückten Jahreszeit all’ die nötigen und mannigfaltigen Vorbereitungen zu einer so langen Reise, zu einer gänzlichen Umgestaltung all’ ihrer Verhältnisse getroffen werden m u ß t e n, auch schien die Zeit eine passende für den Sohn, der, von der Schule gerade abgegangen, eben sein Abiturientenexamen glücklich bestanden hatte. Der Vater wünschte allerdings, daß er hier erst studieren und ihnen dann später, wenn er etwas Tüchtiges gelernt, folgten sollte, dachte ihm aber doch die freie Wahl zu lassen und seinem Herzen keinen Zwang aufzuerlegen.
Am nächsten Morgen nach der durchschwärmten Nacht waren die beiden jungen Damen spät aufgestanden, und nur der Sohn zur gewöhnlichen Zeit ausgegangen, um seine ,englische Stunde’ zu halten. Als aber Marie – die zweite Tochter – bald nach Anna zum Kaffee herüberkam, saß der Vater ungewohnter-weise nicht in seiner Studierstube an der Arbeit, sondern im Sofa, aus der langen Pfeife den Dampf in weißen Kräuselwolken von sich blasend, und die Mutter am Nähtisch, Kleider für das Jüngste ausbessernd, das in seinem herübergeschafften Bettchen wieder mit klaren Augen seine Puppe schaukelte.
«Schon ausgeschlafen, Väterchen?» sagte Marie, als sie, etwas beschämt, als letzte am Kaffeetisch Platz genommen. «Ich habe wohl heut recht lange geschlafen? Aber – was ist Dir denn? – Und der Mutter auch!» rief sie, vom Stuhl wieder aufspringend, als sie das ungewohnte ernste Wesen der Eltern gewahrte. «Bist Du böse auf mich, Mütterchen?»
«Nein, mein Kind», sagte diese und zwang ein Lächeln auf die Lippen, «aber der Vater hat Euch etwas recht Ernstes heute zu sagen, von dem wir noch nicht wissen, ob es Euch betrüben wird oder nicht.»
«Der Vater!» rief Marie erschreckt, und auch Anna, die älteste Tochter, sah ängstlich zu ihm auf.
Professor Lohenstein aber, so in die Enge und zum Äußersten getrieben, hustete, paffte den Dampf ein paarmal scharf vor sich hin, um die Pfeife ordentlich in Glut zu bringen, und sagte:
«Ja, Kinder, Ihr wißt – wir – wir haben doch in den letzten Tagen viel über Nordamerika gesprochen, und auch manches gelesen…. »
«Ja, die herrlichen Romane von Cooper!» rief Marie rasch. 29
«Und die schrecklichen Berichte im Tageblatt», lächelte Anna.
«Der Doktor Hayde ist ein Esel», sagte der Professor, den rauch wieder ein paarmal rasch ausstoßend. «Wenn der hätte in Amerika ordentlich arbeiten wollen, brauchte er sich jetzt nicht von einer Winkeladvokatur und vom Schimpfen auf freisinnige Leute zu ernähren. Über dessen Berichte wollen wir uns keine Sorgen machen, aber… » Er schwieg wieder einen Augenblick und sah, wie furchtsam, nach der Frau hinüber. Die jedoch arbeitete umso emsiger weiter, und selber mit dem Bedürfnis, dem, was ihn schon so lange gedrückt, endlich einmal Worte zu geben, fuhr er rasch fort: «Ich habe eine Frage an Euch zu tun, Kinder: Hättet Ihr – hättet Ihr wohl selber Lust, hinüber nach – nach Amerika zu gehen?»
«Nach Amerika!» rief Anna rasch und auch wohl erschreckt. Marie aber sprang auf, schlug in die Hände und rief jubelnd:
«Nach Amerika! Oh, das wäre ja prächtig – das wäre herrlich! – Nicht war, da sind a u c h Bälle, Väterchen?»
Die Mutter seufzte tief auf, und der Vater zog wieder etwas verlegen an der Bernsteinspitze.
Читать дальше