„Die Funktion des Knopfes mit Pfeil nach unten ist wohl selbsterklärend und die für die Arretierung auch“, stellte ich fachmännisch fest, was Bruce nicht sonderlich imponierte. Daraufhin schloss er die Wagentüren, und es waren große blaue Aufkleber mit Rollstuhlpiktogrammen zu sehen und er sagte kurz: „Es handelt sich um das gleiche Fahrzeug wie Ihres, es lässt sich genauso fahren.“
„Das ist sehr schön.“
„Mein Vater meinte auch, das wäre besser.“
„Der ist extra für diese Fahrt gekauft worden?“
„Natürlich, ohne Rex geht die Alte Dame normal nirgendwo hin und der passt genauso wenig in dieses Auto wie mein Vater. Und mit dem großen Bus wollte mein Vater Sie nicht fahren lassen.“
„Ich bedanke mich für Ihre Aufrichtigkeit.“
„Danke“, druckste er herum: „Ich wollte nur sagen, Ihre Tochter ist eine ganz nette.“
„Das ist sehr richtig. Sie haben Geschmack. Danke. Aber wissen Sie auch, dass Rex ein sehr guter Freund von mir ist?“
„Ja, das sagte mein Vater schon.“
„Gut, dann verstehen wir uns?“
„Sicher, da kann man nichts machen.“
Ich setzte mich ins Auto und dachte: >Mit Rex könnte selbst ich die Welt beherrschen.<
Im Inneren sah der Wagen genauso aus wie meiner, bis auf den blauen Aufkleber auf der Windschutzscheibe.
„Nun legen Sie mal los, bei Ihrem Stundenlohn kann ich mir kein Trödeln erlauben“, beklagte sich die Alte Dame mit freundlicher Stimme.
„Wohin wünscht die Dame chauffiert zu werden?“
„Wohin würden Sie mich denn fahren, wenn Sie Reiseführer wären?“
„Zum bekanntesten Tor der Welt, obwohl es überhaupt kein Tor hat.“
„Riiichtiiig, dann fahren Sie dem Navi nach, es müsste programmiert sein.“
„Ach, das finde ich auch so, ist doch nicht weit.“
„Nun überschätzen Sie sich mal nicht, Sie haben zerbrechliche, wertvolle Fracht an Bord, immer schön langsam.“
Sie genoss es, als wir die Tiefgarage verließen. Sie strahlte, wie meine Kleine beim Reiten.
„Soll ich einen Parkplatz suchen?“
„Nein, ich möchte nicht anhalten, fahren Sie bitte nur ganz langsam… Es hat sich vieles verändert.“
„Wann waren Sie denn das letzte Mal hier?“
„Im April neununddreißig.“
„Oh, das sind ja…“
„Fünfundsiebzig Jahre“, kam sie mir zuvor.
„Ein Menschenleben her.“
„Das ist richtig“, wurde sie melancholisch. „Dahinten haben wir auf einer aufgebauten Tribüne gesessen, über fünf Stunden lang.“
„Was war das für eine Veranstaltung? Die Love-Parade war es wohl nicht“, witzelte ich.
„Mit Liebe hat das wenig zu tun. Viereinhalb Stunden zogen die verschiedensten Bataillone vorbei. Fliegerstaffeln dröhnten im Tiefflug, Panzerstaffeln brachten den Boden zum Beben, Hunderte von Motorrädern mit Seitenwagen fuhren gestaffelt in Reih und Glied vorbei, riesige Geschütze wurden von LKWs gezogen. Die gesamte Kriegsmaschinerie wurde vorgeführt. Wir saßen ihm genau gegenüber. Er stand dort“, zeigte Sie mit dem gesunden Arm zitternd.
Ich wagte es nicht, den Namen auszusprechen und brachte nur hervor: „April neununddreißig, eine Militärparade, zu seinem Geburtstag?“
„Ja, genau zu seinem fünfzigsten. Da ist die heutige Schulbildung doch nicht hoffnungslos verloren.“
„Da hatten Sie aber gute Plätze, da waren doch bestimmt Tausende.“
„Menschen so weit das Auge sehen konnte, und wir hatten die besten Plätze, mein erster Mann war einer von ihnen. Auch ich war eine glühende Anhängerin, bis der angekündigte Wahnsinn in die Tat umgesetzt wurde.“
Nachzufragen traute ich mich nicht, die Luft im Wagen hatte etwas Explosionsartiges, deshalb schwieg ich.
„Alle sind an ihm vorbeigelaufen“, fuhr sie fort, „alle bewaffnet, aber keiner hat geschossen, was für eine Tragödie…Fahren Sie bitte, ich möchte hier weg. Fahren Sie!“, wurde sie hektisch.
Das Navi leitete uns direkt bis zu einem freien Parkplatz vor dem Fernsehturm. >Geil diese Dinger<, dachte ich. Mit einem Knopfdruck befreite ich die Alte Dame und schob sie Richtung Turm. Alles lief glatt, jeder war freundlich und wir hatten sogar Glück, als wir am Aufzug ankamen, war die Tür schon offen, als hätte man uns erwartet. Oben begrüßte uns ein Kellner, frage uns, ob wir essen möchten und geleitet uns zu einem freien Tisch. Auch hier hatten wir wieder Glück, wir saßen direkt am Fenster. Die Aussicht war sagenhaft. Wir hatten Wetter, wie von der Karte bestellt.
Wir aßen. Ich leistete mir ein Holzfällersteak mit Bratkartoffeln und Zwiebeln. Die Alte Dame wollte nur eine Gulaschsuppe, die sie erstaunlich gut essen konnte mit ihrem gesunden Arm, kann man nicht sagen, halbwegs, funktionierenden Arm ist richtiger. Ihr Teller wurde auf ein Tablett gestellt, was seitlich aus dem Rollstuhl herausziehbar war. Als Nachtisch bestellten wir Vanille-Eis mit Erdbeeren.
„Hat es Ihnen geschmeckt?“ fragte der Kellner außergewöhnlich zuvorkommend.
„Es war ausgezeichnet“, sagte die Alte Dame, „wie zuhause.“
„Ich hoffe, das war ein Kompliment?“, witzelte er.
„Aber gewiss doch, bestellen Sie dem Küchenchef einen schönen Gruß von mir.“
„Werde ich ihm ausrichten. Kann ich Ihnen noch etwas bringen?“, fragte der Kellner übertrieben höflich.
Die Alte Dame schaute mich fragend an und sagte mit zynischem Unterton: „Bringen Sie uns bitte die Rechnung!“
„A…gewiss doch.“
Es dauerte eine Zeit lang.
Der Kellner kam zurück und legte mir die Rechnung vor und ich erschrak etwas, als ich die Summe sah.
>Nach Abzugs der Rechnung von meiner Besoldung, war meine Verdienst doch nicht übertrieben.<
„Wieso haben Sie mir nicht die Rechnung gegeben?“
„Ich dachte, der Herr würde… Er will mir die Rechnung abnehmen.“
„Lassen Sie, Sie wussten, dass ich kein Geld bei mir habe.“
„Richtig…, ich vermutete es“, verbesserte er sich.
„Nein, Sie wussten es.“
„Sie haben kein Täschchen dabei…“, versuchte er sich raus zu winden.
Ich holte das Kuvert heraus…
„Lassen Sie Herr Müller, heute zahlen wir nicht… Richtig“, schaute sie den Kellner an.
„Richtig…“, antwortet er geschlagen, dabei bildeten sich Schweißperlen auf seiner Stirn.
„Wau, gehört Ihnen das Türmchen auch?“, fragte ich und wollte witzig sein. „Dann können wir hier öfters essen.“
Der Kellner oder Ober, worin immer der Unterschied bestehen mag, fand dieses aber überhaupt nicht lustig.
„Nein, nicht dass ich wüsste“, antwortete sie lächelnd den Kellner ansehend, dem mittlerweile der Schweiß auf der Stirn stand.
„Als Sie mich bedienten, fiel mir auf, Sie sind Rechtshänder. Könnten Sie für mich bitte die Linke Seite Ihres Sakkos öffnen.“
„Aber?“
„Ich bin die Chefin.“
„Ja, aber…?“
„Nichts aber! Ich bin die Chefin und ich befehle, öffnen Sie Ihr Sakko.“
Vor und hinter uns wurde es unruhig. Langsam öffnete der Kellner sein Jackett.
„Danke schön. Herr Müller, wie viele Kellner kennen Sie, die eine Waffe im Dienst tragen?“
„Er ist kein Kellner? Er ist von Ihrem Sicherheitsdienst?“
„Genau und die Herrschaften hinter und vor uns auch. Die neben uns mit Sicherheit auch und ich denke, die davor und dahinter gehören auch zur Mannschaft. Stimmt es?“, fragte sie den Kellner milde.
Der nickte.
„Und wer noch?“
„Puh…, ich…“
„Sie dürfen. Herrn Müller, vertraue ich genauso wie Dirty Harry und meinem Leibarzt.“
„Wirklich? Ich bin nur ein kleiner…“
„Ja, wirklich reden Sie!“
„Alle hier im Raum sind von uns. Wir haben das ganze Restaurant gemietet.“
Читать дальше