hindurchzudringen. Drüben regte sich nichts. Entweder war kein Feind vorhanden oder ich hatte es mit
Einem zu tun, der zu schlau und zu erfahren war, um sich durch eine solche Finte irre machen zu lassen.
Ich beschloß, alles zu wagen. Ich kroch zurück und holte aus. Mit zwei Sprüngen hatte ich den freien
Raum durchmessen und drang, das Messer zum Stoß bereit haltend, in die Lentisken ein. Unter
abgebrochenen Zweigen lag ein Mensch; das fühlte ich sofort, aber er war nicht lebend. Ich hob die
Zweige empor und erblickte ein von den Todeszuckungen gräßlich entstelltes Gesicht mit blutigem
Schädel. Es war ein Weißer; man hatte ihn skalpiert. In dem Rücken steckte, wie ich bei der
Untersuchung seines Körpers bemerkte, die mit Widerhaken versehene Spitze eines abgebrochenen
Pfeiles. Ich hatte es also mit Indianern zu tun, die sich auf dem Kriegspfade befanden; das sagte mir der
Widerhaken.
Hatten sie sich entfernt, oder befanden sie sich noch in der Nähe? Ich mußte das wissen. Ihre Spuren
waren von hier aus deutlich zu bemerken; sie führten von dem Bahndamme in die Prairie hinein. Ich
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folgte ihnen, immer bereit, einen Pfeil zu erhalten oder mein Messer zu gebrauchen, von Busch zu Busch.
Es waren vier Mann gewesen, zwei ältere und zwei Jünglinge, wie ich aus der Größe der Fußstapfen
schließen konnte. Sie hatten, während ich mich bloß auf den Finger und Zehenspitzen fortbewegte - eine
Aufgabe, welche große Übung und nicht unbedeutende Kraft erfordert - ihre Fährte gar nicht zu
verbergen gesucht, mußten sich hier also vollständig sicher fühlen.
Der Wind blies aus Südost, aus derjenigen Richtung, welcher ich mich entgegen bewegte; daher erschrak
ich nicht sehr, als ich das Schnauben eines Pferdes vernahm; denn es konnte mich nicht gewittert haben.
Ich kroch weiter und befand mich endlich am Ziele oder bemerkte doch wenigstens genug, um mich
wieder zurückziehen zu können. Vor mir sah ich nämlich zwischen den Büschen eine Anzahl von
vielleicht sechzig Pferden, alle außer zweien auf indianische Weise angeschirrt. Die Sättel hatte man
ihnen abgenommen, jedenfalls um sie an dem in der Nähe befindlichen Lagerplatz als Sitze oder
Kopfunterlagen zu gebrauchen. Bei den Tieren standen nur zwei Mann Wache. Der eine, ein noch junger
Mensch, hatte ein paar derbe, rindslederne Stiefel an, jedenfalls das frühere Eigentum des Ermordeten,
den ich vollständig nackt gefunden hatte und dessen Kleider und Habseligkeiten unter seine Mörder
verteilt worden waren. Er gehörte also wohl zu den Vieren, deren Fährte mich herbeigeführt hatte.
Der Indianer verkehrt öfters mit Weißen, welche seine Sprache nicht verstehen. Aus diesem Grunde hat
sich zwischen den roten Männern und den ›Bleichgesichtern‹ eine Pantomimensprache gebildet, deren
Zeichen samt ihrer Bedeutung jeder kennen muß, welcher den wilden Westen betritt. Bei einem lebhaften
Temperamente oder bei aufregenden Veranlassungen kommt es dann sehr häufig vor, daß sich jemand der
mündlichen Ausdrucksweise bedient und dieselbe unwillkürlich mit Pantomimen begleitet, welche
dieselbe Bedeutung wie die Worte haben. Die beiden Wächter unterhielten sich, und der Gegenstand ihres
Gesprächs mußte sie sehr lebhaft interessieren, denn sie gestikulierten, sich hier für unbeobachtet haltend,
in einer Weise, welche ihnen wohl mehr als einen tadelnden Blick der ernsteren, älteren Krieger
zugezogen haben würde. Sie deuteten nach Westen, gaben das Zeichen des Feuers, des Pferdes, also
Lokomotive, welche von den Indianern ja ›Feuerroß‹ genannt wird, hieben mit ihren Bogen auf die Erde,
als wollten sie hacken oder wuchtige Hammerschläge ausführen, zielten wie zum Schießen, machten die
Bewegung des Stechens und des Tomahawkschwunges - - ich hatte genug gesehen und kehrte
unverzüglich zurück, wobei ich die von mir verursachten Spuren so viel wie möglich vertilgte.
Aus diesem Grunde dauerte es lange, sehr lange, ehe ich mein Pferd wieder erreichte. Es hatte
mittlerweile Gesellschaft gefunden, denn neben demselben weidete die Stute Sams, welcher gemütlich
hinter einem Busche lag und an einem mächtigen Stück Dürrfleisch kaute.
»Wie viele sind es, Charley?« fragte er mich.
»Wer?«
»Indsmen.«
»Wie kommt Ihr auf diese?«
»Der alte Sans-ear scheint Euch wohl auch ein Greenhorn zu sein, wie Ihr vorher ihm? Da irrt Ihr Euch
aber gewaltig, hihihihi!«
Es war das halblaute, selbstbewußte Lachen, welches ich bereits einmal von ihm vernommen hatte, und
das er wohl nur hören ließ, wenn er sich einem Andern überlegen wußte. Auch dies war eine Ähnlichkeit
mit Sam Hawkens, welcher fast ebenso zu lachen pflegte.
»Inwiefern, Sam?«
»Muß ich Euch das erst sagen, Charley? Was hättet Ihr wohl getan, wenn Ihr hier angekommen wäret und
hättet diesen Hammer da beim Pferde gefunden, nicht aber Euern Old Shatterhand?«
»Ich hätte gewartet, bis er zurückgekehrt wäre.«
»Wirklich? Das möchte ich zum Beispiel nicht gern glauben. Ihr fehltet, als ich kam; es konnte Euch
etwas passiert sein, und so ging ich Euch nach.«
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»Ich hätte aber auch bei einem Vorhaben sein können, welches durch Eure Gegenwart vereitelt werden
konnte. Zudem denke ich, daß Old Shatterhand nichts unternimmt, ohne vorher die nötige Vorsicht
anzuwenden. Wie weit seid Ihr mir nachgefolgt?«
»Erst dahin, dann dorthin, hüben und drüben, bis zu dem armen Mann, den die Indsmen ausgelöscht
haben. Ich konnte rasch machen, denn ich wußte Euch vor mir; als ich dann den Toten sah, so dachte ich,
daß Ihr nur auf Spähe wäret, und kehrte zurück, wo ich zum Beispiel nachher ganz ruhig auf Euch
gewartet habe. Also wie viele sind es?«
»Sechzig vielleicht.«
»Schau! Also wohl die Truppe, deren Spur ich gestern schon bemerkte. Auf dem Kriegspfade?«
»Ja.«
»Kurzes Lager?«
»Sie haben abgesattelt.«
»Blitz! Da haben sie hier herum etwas vor! Habt Ihr nichts bemerkt?«
»Wie mir scheint, wollen sie die Schienen aufreißen, daß der Zug verunglückt, wenn er kommt, und ihn
dann berauben.«
»Seid Ihr närrisch, Charley? Das wäre ja ein ganz außerordentlich gefährliches Ding für die Railroader
samt ihren Passagieren! Woher wißt Ihr es?«
»Ich habe sie belauscht.«
»So versteht Ihr die Mundart der Ogellallahs?«
»Ja. Es war aber gar nicht nötig, denn die Pferdewache, in deren Nähe ich gelangte, sprach in deutlichen
Pantomimen.«
»Das ist zuweilen trügerisch. Beschreibt mir doch einmal die Pantomimen, die Ihr gesehen habt!«
Ich tat es; der kleine Mann sprang empor, beherrschte sich aber und ließ sich wieder nieder.
»Dann habt Ihr sie richtig verstanden, und wir müssen dem Zuge Hilfe bringen. Aber wir wollen uns zum
Beispiel nicht übereilen, denn solche bedeutende Dinge müssen mit Ruhe überlegt und besprochen
werden. Also sechzig? Hm, ich bringe kaum noch zehn Kerben auf meine Büchse; wo schneide ich sie
nachher hin?«
Ich hätte trotz der ernsten Situation beinahe laut gelacht. Das kleine Männchen hatte sechzig Indsmen vor
sich und war, statt sich vor ihrer Überzahl zu fürchten, nur um den Platz für seine Kerben besorgt.
»Wie viel wollt Ihr denn niederstrecken?« fragte ich ihn.
»Das weiß ich zum Beispiel selbst noch nicht; ich denke aber, höchstens zwei oder drei, denn sie werden
davonlaufen, wenn sie zwanzig oder dreißig Weiße bemerken.«
Er zog also ebenso, wie ich es bereits im Stillen gemacht hatte, den Umstand mit in Berechnung, daß wir
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