»Gibt es einen Preis, um den wir kämpfen?« Finns Frage unterbricht die Stille. Er blickt mit rotem Gesicht erst in die Runde und dann zurück zu Morwenna. »In jedem Wettkampf wird etwas ausgelobt, dass den Ehrgeiz der einzelnen Spieler antreiben soll. Bekommen wir einen Pokal, eine Urkunde – oder nur einen herablassenden Händedruck?«
»Gut, dass du danach fragst. Wir kämpfen nicht nur um die Ehre, auch wenn das für mich bereits ausreichen würde, diese hochnäsigen Universitätsstädter …« Sie hüstelt verlegen und fährt dann ruhiger fort. »Das Team aus dem Internat hat im letzten Jahr den Siegerpokal der Mannschaftswertung bei den nationalen Schachmeisterschaften gewonnen. Sollten wir die Hälfte der Spiele gewinnen, wobei die unentschieden gewerteten nicht berücksichtigt werden, bekommen wir diese Trophäe für drei Monate ausgeliehen. Außerdem will sich Innocent dann für unsere Teilnahme bei den Meisterschaften zum Ende des Jahres einsetzen, obwohl die Bewerbungsfristen dafür bereits abgelaufen sind. – Ob sie das tatsächlich machen wird, ist abzuwarten. Schließlich würde dadurch die Aussicht ihrer Mannschaft sinken, den Pokal erneut zu gewinnen.«
Der große Gong erklingt. Sein dunkler Ton dringt in alle Räume des alten Gebäudes und ruft zum Abendessen in den Speisesaal. Die wenigen Bibliotheksbesucher klappen die Bücher zu und bringen sie zu Professor Mulham, bevor sie den Leseraum verlassen. Die im abgegrenzten Bereich bisher in ihre Schachpartien vertieften Schüler blicken erwartungsvoll zu Morwenna. Hat sie erneut eine Ausnahmeregelung fürs Abendessen vereinbart, so dass sie weiterspielen können? Die Bibliothekarin kommt hinter der Abgrenzung hervor und fordert die Spieler auf, sie zu begleiten.
»Es ist den Köchinnen und ihren Helfern nicht zuzumuten, für uns jeden Abend Zusatzarbeiten nach der offiziellen Essenszeit zu leisten. Wir unterbrechen die Spiele und treffen uns in einer Stunde erneut. Also beeilt euch!« In diesem Moment erklingt der Gong zum zweiten Mal. Alle erheben sich und drängen aus der Bibliothek in den Flur, um rechtzeitig den Saal zu erreichen. Sie wissen, wer beim dritten Ton nicht dort ist, bekommt kein Essen. Anna und Robin warten, bis die Professorin die Tür verriegelt hat.
»Kann ich etwas für euch tun, ihr Lieben?« Ihr Blick ruht fragend auf deren Gesichtern. Der Junge weiß zwar, was Anna brennend interessiert, er wagt es jedoch nicht, anzufangen. Diese wiederum ist unsicher, wie sie beginnen soll. Sie hat ihren rechten Fuß mit den Zehenspitzen auf den Boden gestellt und die Hacke weist nach oben. Anna dreht ihn hin und her, wie sie es oft beim Überlegen macht. Morwenna fragt nach. »Ist es so schwierig? Ich reiß euch schon nicht den Kopf ab. Lasst uns Richtung Speisesaal gehen, damit wir dort noch etwas bekommen. – Moment, ihr wollt mir jetzt aber keine Absage für den Vergleichswettkampf erteilen? Ich rechne fest mit euch!« Die Professorin bleibt nach den ersten Schritten erschrocken stehen. Ihr tiefdunkler, blauer Umhang, der im zügigen Gehen hinter ihr her wehte, schwingt noch etwas nach.
»Nein, natürlich nicht!« Beide Schüler protestieren und setzen sich zusammen mit ihr wieder in Bewegung. Dann beginnt Anna, wobei sie verlegen seitlich zu Morwenna schaut.
»Ich habe Robin von der Anderswelt und meinen Erlebnissen dort erzählt.« Der Schulleiter Iain Raven hat ihr dringend davon abgeraten. Er befürchtet, gefährliche Wesen könnten umso leichter die Übergänge zwischen den Welten nutzen, je mehr Menschen des Diesseits darüber wissen und sich leichtfertig über diese Kreaturen unterhalten. Den Troylingen ist der Wechsel hierher einmal fast gelungen, als er selbst etwas unachtsam den Übergang zwischen den Welten nutzte.
»Du hast WAS?« Morwenna bleibt erneut stehen und starrt ungläubig auf Anna.
»Es war nicht zu vermeiden. Wir sind schließlich Freunde und ich wollte ihn nicht anlügen!«
»Aber …! Hm. Du hast selbstverständlich richtig gehandelt, ihn nicht zu belügen, aber musstest du ihm dann gleich alles erzählen?«
Erleichtert über die unerwartet milde Reaktion entgegnet Anna mutiger: »Wo hätte ich mit den Erläuterungen aufhören können? Wenn Robin mich nicht für durchgedreht halten soll, MUSS ich doch alles berichten. Nur in der Gesamtheit ist die Wahrheit erkennbar!«
»Hm. Da ist schon was dran. – Warum erzählst du mir das jetzt? Hat Ainoa dich erneut um Hilfe gebeten? Ist euch dieser Seid Greif womöglich hierher gefolgt?« Das Gesicht der Professorin wechselt von Erstaunen zu einem besorgten Ausdruck. Eine fahle Blässe unterstreicht ihre Gefühle. »In dem Fall sollten wir besser nicht zum Essen, sondern sofort zu Auguste de Enaid gehen.« An Robin gewandt erklärt sie: »Das ist der Geheimname von unserem Schulleiter Iain Raven, den er in der Anderswelt nutzt.«
»Das ist mir bekannt«, entgegnet dieser.
»Was? Woher kannst du … Ach, ich vergaß, Anna hat dir ja alles erzählt.«
Die Schülerin stellt sofort klar, weshalb sie die Professorin sprechen will. »Im Moment ist mir nichts von einer Bedrohung durch die Cythraul bekannt. Ich möchte lediglich wissen, wie der Stand der Recherchen zu Seid Greif ist. Konntest du ermitteln, ob er ein Verwandter von Augustus Back ist, von dem ein Denkmal im Park steht? Deswegen bist du doch vermutlich in der Universitätsstadt gewesen, oder?«
»Das stimmt. Das, was ich herausbekommen habe, hilft uns leider nicht weiter. Ich schlage vor, wir reden nach dem Schach darüber. Wir sollten uns jetzt besser beeilen, wenn wir noch rechtzeitig im Speisesaal ankommen wollen.« Den erreichen sie, als gleichzeitig der Gong zum dritten Mal erklingt.
Nach den Schachübungen verlassen die Teammitglieder die Bibliothek. Als Morwenna mit Robin und Anna allein ist, schließt sie den Leseraum ab und verlässt mit ihnen das Internatsgebäude. Sie folgen den verschlungenen Wegen durch den Park, bis sie im hinteren Bereich vor dem Haus des Schulleiters stehen. Aus den seitlichen, kleinen Fenstern, dort wo sich die Wohnstube befindet, dringt gelblicher Lichtschein nach draußen. Die Professorin betätigt am Eingang den Türklopfer. Es dauert nicht lange, dann sind erst Geräusche und danach eine Stimme von innen zu hören.
»Was gibt es zu so später Stunde? Wenn es kein Notfall ist, hat es bestimmt Zeit bis morgen!« Die Stimme klingt nicht unfreundlich, die Tür wird aber nicht geöffnet. Wie bei den bisherigen Besuchen kann Anna die verschiedenen Nachtgeräusche plötzlich deutlicher vernehmen. Das Schuhu einer Eule erklingt nah und in der Ferne ein raues Krächzen. Sollte das Ainoa sein? Das Mädchen zieht die Augenbrauen hoch. Ist das ein übliches Begrüßungsszenario an der Tür dieses Hauses, das vielleicht durch irgendeinen Zauber des Professors aufgerufen wird?
»Iain, hier ist Morwenna Mulham. Bei mir befinden sich die Schüler Anna und Robin. Es ist kein Notfall, der uns herführt. Aber wir sollten Anna die Ergebnisse von unseren Recherchen mitteilen. Sie hat ein Recht darauf. Bitte öffne.« Erneut vergeht eine kleine Ewigkeit, dann rasselt ein Schlüssel und die Tür öffnet sich langsam. Ein greller Lichtschein fällt nach draußen und umhüllt die späten Besucher. Er stammt von einer Lichtkugel, die in Höhe der Hand des Professors schwebt, so dass sie leicht für eine starke Taschenlampe gehalten werden kann. Als Iain Raven sie gemustert und sich von der Wahrheit von Morwennas Äußerung überzeugt hat, schwächt er das helle Licht. Robin vermag seinen Blick nicht von der seltsamen Lichtquelle zu wenden, obwohl Anna ihm von Lichtkugeln berichtet hat. Etwas hören oder sehen, macht offenbar einen gewaltigen Unterschied.
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