So stellte sich Phileas das jedenfalls vor. Aus den offiziellen Eintragungen ging nur hervor, dass die beiden Weber-Zwillingsjungen die beiden Simon-Zwillingsmädchen heirateten. Beide Mädchen kamen so zu dem Namen Weber, und es gab jetzt zwei Weberfamilien im Dorf und in der vierten Generation von Phileas‘ Stammbaum.
Das war auch noch nichts Besonderes. Sie waren ja in keiner Form „blutsverwandt“, ein Begriff, der im Dritten Reich eine große Rolle spielte.
Doch in der nächsten Generation – das war Phileas‘ dritte – passierte etwas Ungewöhnliches. Aus beiden Ehen ging ein Kind hervor: Ein Junge und ein Mädchen, und diese beiden heirateten ebenfalls. Das war rechtlich als Cousin und Cousine durchaus nicht zu beanstanden, doch wegen der Zwillingseigenschaften ihrer Eltern etwas zweifelhaft.
Das meinte auch der Standesbeamte, der die Unterlagen durchsah. Das war doch arg am Rande einer Blutschande, wenn nicht sogar schon Inzest, aber die Urkundenlage gab das nicht anders her. Aber der Standesbeamte war einerseits ein gutmütiger Mensch, der es Phileas nicht unnötig schwer machen wollte, sich von dem jüdisch klingenden Namen zu befreien, andererseits aber auch die bedenklichen Eheschließungen in grauer Vorzeit nicht an die große Glocke hängen wollte.
„Herr Doktor Rosenstrauch“, führte er aus, „ich bin verpflichtet, alle Eintragungen genau nach der Urkundenlage vorzunehmen. Wenn ich diese Dokumente …“, er zeigte auf die Abschriften aus den Kirchenbüchern, „… aber gar nicht zu sehen bekomme, kann ich sie auch nicht eintragen. Sie brauchen ohnehin nur einen Nachweis bis zur dritten Generation.“ Damit reichte er Phileas die brisanten Blätter zurück und begann mit den Eintragungen bis zu Phileas‘ Urgroßeltern.
Der Ahnenpass war nun komplett und wurde als Ariernachweis vom Amtsgericht Pamphusen anerkannt. Phileas war somit einer der ersten Deutschen mit lupenreiner arischer Vergangenheit, ein echter Volksdeutscher also!
Das weitere Verfahren der Namensänderung war dann nur noch eine Formsache.
Dr. Phileas Heldenreich konnte unbehelligt seine Arztpraxis wieder eröffnen, und es gab keine weiteren gewalttätigen Anschläge auf ihn.
Emma und ihre Schwestern betrieben ihren Tante-Emma-Laden längst nicht in der Größenordnung, wie es August Heldenreich getan hatte. Mehrmals versuchte sie, an die alten Marine-Verbindungen anzuknüpfen, doch es war eben nicht die „Kaiserliche Marine“, sondern die neu aufstrebende Kriegsmarine der deutschen Wehrmacht. Da spielten die alten Beziehungen keine Rolle mehr. Vielleicht wären die drei Frauen auch mit einer solchen Aufgabe völlig überfordert gewesen.
Dora war faszinierter von den vielen kleinen und Flugzeugen, die man immer häufiger sah. Sooft eines am Himmel auftauchte, legte sie den Kopf in den Nacken und träumte davon, selbst hoch über den Wolken zu fliegen. Was für ein leichtes Gefühl musste es sein, durch die Luft zu schweben.
Emma und Berta waren dagegen etwas bodenständiger. Sie brauchten den Boden unter den Füßen, oder zumindest etwas Wasser. Laufen und schwimmen konnte der Mensch von Natur aus – aber fliegen …?
Als eines Tages in der Nähe Pamphusens eine kleine Luftfahrtschau angekündigt wurde, überredete Dora ihre Schwestern, gemeinsam mit ihr die Veranstaltung zu besuchen.
Nun, es waren nichts weiter als ein paar kleine Flugzeuge einer Fliegerschule, die von den Besuchern auf einer Wiese am Rande der Stadt besichtigt werden konnten. Stolz standen die jungen Männer neben ihren Doppeldeckern und beantworteten alle Fragen – und noch viel mehr als das: Die von ihnen geschilderten Abenteuer waren allzu fantastisch, um glaubwürdig zu sein. Die jungen Mädchen glaubten sie trotzdem. Endlich hatten sie mal einen richtigen Helden vor sich!
Ein junger blonder Mann hatte Dora sofort angezogen. Er war ein Bild von einem Mann: Etwas größer und kräftiger als alle anderen, trug er stolz seine einteilige Fliegermontur zur Schau, die gefütterte Lederkappe mitsamt der angeknüpften Schutzbrille lässig nach hinten geschoben, damit die dichten hellblonden Haare zur Geltung kamen. Er war sich seiner Wirkung bewusst … und Dora fiel sofort darauf herein. Oder war es genau anders herum?
Sie war gerade 22 Jahre alt geworden und eine durchaus sehenswerte Frau. Im Gespräch erfuhr Dora den Namen ihres Helden: Er hieß Georg von Rickwitz und war der Sohn eines Rittergutbesitzers aus Pommern. Die Fliegerei war für ihn nur eine notwendige Vorstufe für etwas viel Größeres. Er wollte Luftschifffahrer werden. Doch dazu brauchte er zunächst einen Pilotenschein.
Als die Flugschüler zum Abschluss ein paar Schaurunden flogen, durften sie jeweils einen Passagier mitnehmen. Georg lud Dora ein. Darauf hatte sie gehofft. Nun ging dieser Traum in Erfüllung. Galant half er ihr, auf den vorderen Sitz zu klettern und schlang ihr seinen langen Schal um den Hals. Er selbst setzte sich auf den Pilotensitz dahinter. Einige andere Flugschüler schoben den Doppeldecker an das Ende der Wiese. Ein anderer Helfer, vermutlich ein Mechaniker, drehte den Propeller. Nach einigen Versuchen sprang der Motor an und die Maschine setzte sich in Bewegung. Einige Meter schoben die Kameraden noch an den Tragflächen, dann kam das Flugzeug in Schwung und rumpelte aus eigener Kraft über die Wiese. Das war ganz anders, als Dora es sich vorgestellt hatte. Erst als sich die Räder in die Luft erhoben, hörte das Rumpeln auf.
Dora ließ sich den Fahrtwind ins Gesicht blasen. Zum Glück hatte ihr Georg eine Lederkappe umgeschnallt und eine dicke Schutzbrille aufgesetzt. Der Schal wehte im Wind nach hinten und flatterte Georg um die Ohren, als würde er die beiden vereinen wollen. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen, deshalb zupfte er daran, um Dora darauf aufmerksam zu machen. Diese verstand das völlig falsch und wollte sich umdrehen. Dabei stieß sie mit dem Knie gegen den vorderen Steuerknüppel, der vor ihrem Sitz angebracht war. Das Flugzeug senkte seine Nase nach unten und flog immer schneller auf den Boden zu. Dora sah davon nichts, denn der Schal hatte sich um ihren Kopf gewickelt, das andere Ende wedelte vor dem Piloten umher.
Die Zuschauer am Boden hielten die Luft an, die meisten kreischten, als sich die Maschine der Wiese näherte. Doch Georg bekam sie wieder in Griff: Nur 10 Meter über dem Boden fing er sie ab und lenkte sie wieder nach oben. Die Zuschauer stießen ein befreites „Aahhh!“ aus.
Emma und Berta waren entsetzt über den Piloten, der ihre Schwester derartig in Gefahr brachte. Das war doch pure Angabe!
Das kleine Flugzeug flog jetzt steil nach oben, und Georg versuchte, es wieder in einen waagerechten Flug zu bekommen. Leider gelang das auch nicht, denn der Schal hatte sich inzwischen um den vorderen Steuerknüppel geschlungen und ihn blockiert. Dora starrte derweilen durch den drehenden Propeller hindurch steil in die Luft. Oben war nur der Himmel. Sie hatte keine Angst, denn sie vertraute ihrem Piloten. Sie ahnte gar nicht, dass dieser hinter ihr um ihr beider Leben kämpfte. Georg musste den Hebel wieder freibekommen. Der Schal verhinderte das! Dieser hing jetzt mit einem Ende an dem Lenkseil des Seitenruders fest, mit dem anderen am vorderen Steuerknüppel. Dazwischen war er noch um Doras Hals geschlungen. Jeder Versuch Georgs, am Schal zu ziehen, löste eine andere Reaktion aus. Mal kippte die Maschine nach rechts und mal noch weiter nach oben.
Das Flugzeug stieg in einer steilen Spirale. Die Zuschauer applaudierten, die Flugschüler am Boden waren erstaunt über die waghalsigen Manöver ihres Kameraden. Das war nicht abgesprochen. Der Fluglehrer knirschte mit den Zähnen: „Na warte! Komm du wieder runter!“, fluchte er.
Der Doppeldecker hatte inzwischen den höchsten Punkt seines Aufwärtsfluges erreicht und neigte sich nach hinten. Dann beschrieb er einen exakten Looping der ihn wieder bis kurz vor den Boden brachte. Doch Georg hatte das Schalproblem immer noch nicht gelöst. Mit den blockierten Steuereinrichtungen würde die Maschine wahrscheinlich einen Looping nach dem anderen drehen, bis der Kraftstoff alle war. Dann folgte unweigerlich der Absturz.
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