Für einen kurzen Moment hatte Brugger in Erik einen kleinen, allein gelassenen Jungen gesehen, der gerade dabei war, seine Freundin zu verlieren. Das war der Moment, in dem Brugger wusste, dass er handeln musste und dazu Emmas Unterstützung brauchen würde. Und diese forderte er nun ein.
„Paps, was meinst du mit Anker? Meinst du, wenn ich mich mit ihm überwerfe, dann kommt er nicht zurück?“
„Na ja, zurückkommen muss er ja automatisch, wenn diese Informationen alle stimmen. Die Frage ist nur, wie er seine Aufgaben danach angehen wird. Ich glaube, du kannst dafür sorgen, dass er nicht abdriftet und dass seine Motive anständig bleiben. Ich weiß auch nicht, wie ich das erklären soll. Wenn er mit seinem Neuro rummacht und es ihm all die Dinge erzählt, die sonst noch kein Mensch auf der Erde wissen kann, dann ist er danach so euphorisch.
Gut! Derzeit frustriert es ihn auch noch oft. Aber wenn es diese Antwortsperren mal nicht mehr hat und ihm wirklich JEDE Frage beantwortet, dann kann er schnell überheblich oder gar größenwahnsinnig werden, wenn er nicht jemanden hat, der ihn auf dem Teppich hält. Meinst du nicht auch?“
Emma nickte und schien seinen Überlegungen folgen und zustimmen zu können. „Und jetzt stell‘ dir bloß mal vor, wenn er zurückkommt und noch ein paar Spielsachen mehr dabei hat! Ich weiß es nicht sicher, aber ich denke, selbst eine Waffe ist da nicht ausgeschlossen. Vielleicht sogar wahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass er da schon ein bisschen was zu erledigen haben wird. Kurz gesagt: Kommt er als Superheld oder als Superschurke zurück?“
Emmas Augen funkelten. Diesmal aber nicht, weil die Tränen im Anflug waren, sondern weil er sie wohl überzeugt hatte. Ja, sie war ein großer Fan von diesen Comic-Verfilmungen und er hatte sein Abschlussargument bewusst aus diesem Jargon gewählt. Mit der Aufgabe, die er ihr in Aussicht stellte, blühte sein Mädchen wieder auf.
Sie gab ihm schnell einen Kuss auf die Wange und sagte ihm im Gehen, dass die Maschine noch ungefähr eine Stunde brauchen würde. Er solle sich oben auf der Couch ausruhen, einen Film schauen und die Finger vom Wodka lassen. Und schon war sie weg.
Das ging ja schnell, dachte Brugger.
So konnte Brugger sich nun in aller Ruhe seiner anderen Aufgabe widmen. Er ging wieder hoch in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Dort hinter dem Wodka hatte er etwas versteckt, von dessen Existenz Emma vorerst nichts wissen sollte. Ein Teil einer Art „Plan B“, den er sich ausgedacht hatte. Es leuchtete Neongrün aus dem Kühlschrank und Brugger entnahm den Container, weil der Kühlschrank nur als kurzfristiges Versteck hatte dienen sollen.
Vorhin beim rituellen „Nastrowje“ für Petrow, hatte er Erik gefragt, ob er denn Kontrolle über den Behälter mit dem Cyto-X habe. Der wusste nicht genau, worauf er hinaus wollte und Brugger erklärte ihm, dass das Neuro nachher das Dialysegerät programmieren würde und dass man den Behälter einfach dort hinein legen müsste, wo das Blut gewaschen wurde. Die Öffnung der Membran um die Flüssigkeit herum würde das Neuro auch regeln.
Brugger mochte solche Abläufe gar nicht, wo man alle Funktionen und Aufgaben aus der Hand gab. Aber zumindest hatte die Antwort einen versteckten Hinweis auf das gegeben, worauf er es eigentlich abgesehen hatte. „Könntest du deinem Neuro sagen: Bitte trenne den Behälter so, dass ich die zwei Liter habe, die ich brauche und dann einen kleineren zweiten Behälter mit dem Rest?“
Erik hatte gegrinst und den Behälter auf den Tisch gelegt. Das Neuro hatte er noch als Stirnband getragen. Brugger hatte ihn eine Weile beobachtet, wie er versuchte, die Anfrage mit geschlossenen Augen richtig zu formulieren. Dann hatte Erik das Stirnband abgenommen, es in die Ausgangsform zurückverwandeln lassen, und es einfach auf den Container gelegt.
Kurz danach waren beide Zeuge geworden, wie sich der Behälter durch das Erzeugen von einer neuen Membran ungefähr im Verhältnis ein Drittel zu zwei Drittel teilte. Erik hatte den kleineren Container oben abgehoben und ihn mit einem Schmunzeln an Brugger weitergereicht.
„Sagst du mir, was du damit vorhast?“ Brugger hatte dies verneint und dann den Wodka verteilt. Erik hatte zwar die Stirn in Falten gelegt, aber es dann dabei bewenden lassen.
Das Übergangsversteck „Kühlschrank“ hatte Brugger bewusst gewählt. Erik würde dadurch nicht wissen, wo er es wirklich lagern würde. Ob diese Geheimhaltung tatsächlich nötig war, stand noch in den Sternen, aber Brugger dachte eher daran, das Versteck vor Staam geheim zu halten, als vor Erik. Man konnte nie wissen!
Nun trug er den kleinen Behälter nach oben in Karinas kleine Giftküche. Sie war spezialisiert auf tropische Krankheiten und hatte zahlreiche Präparate und Heilmittel in ihrem Kühlschrank dort oben gelagert. Der Schrank war natürlich abschließbar, wie es sich gehörte, selbst wenn man in einem Haus lebte, in dem ansonsten nur noch eine weitere Medizinerin lebte, die mit solchen Sachen ebenso umzugehen wusste.
Brugger vertraute darauf, dass Karina den Schlüssel noch immer in seinem alten Versteck aufbewahrte. Er ging zu dem kleinen antiken Apothekerschränkchen neben ihrem Schreibtisch. Es war sicher ein Vermögen wert, darauf ließ eine kleine geschnitzte Signatur, hergestellt 1875, schließen.
Der Schrank war aus massiver Eiche gefertigt, mit silbernen Beschlägen, die aber mittlerweile schwarz waren. Es hatte fünf Reihen zu je sieben Schüben. Brugger hatte immer gewitzelt, dass es 1875 wohl genau fünfunddreißig verschiedene Medikamente gegeben haben musste.
Dritte Reihe, vierter Schub, also genau mittig, öffnete er die kleine Schublade. Da lag ein Päckchen Aspirin. Er grinste, weil er genau wusste, wie sehr Karina gerade dieses Präparat verachtete. Eine frisch gepresste Zitrone hatte mehr Heilkraft! Aber in dem Schächtelchen waren auch keine Tabletten. Brugger nahm es heraus und schüttelte es. Schön, dass sich Gewohnheiten bei Menschen so selten änderten!
Er nahm den Schlüssel aus der Schachtel und öffnete damit Karinas Kühlschrank. Er deponierte das Cyto-X ganz weit hinten, hinter Blutkonserven der ganzen Familie, die sie immer vorrätig hatte. Brugger prüfte die Ablaufdaten und war erfreut, dass Karina diese sowieso bald würde ersetzen müssen. Jetzt stand der Herstellung von etwas mehr Cyto-X nichts mehr im Wege.
Erik war nach dem Trinkspruch mitsamt eines kleinen Akku-Staubsaugers in den fehlkonstruierten Bunker abmarschiert. Staub und Spinnweben würden ihn zwar nicht gefährden, aber es gab ihm doch ein besseres Gefühl, wenn der Raum gründlich sauber wäre.
Viel zu tun, gab es nicht. Offensichtlich hatte jemand vor nicht allzu langer Zeit bereits dort durchgesaugt. Der Raum war sogar so sauber, dass man hätte einziehen können. Falls man auf Annehmlichkeiten, wie fließendes Wasser und eine Toilette verzichten konnte. Ein Bunker war dies wahrlich nicht, aber auch kein Kartoffelkeller. Nein, das war der ideale Ort für das große Vorhaben.
Wieder musste Erik sich wundern. Konnte das alles wirklich so aus der Zukunft gesteuert worden sein? War er irgendwie zu Emma „dirigiert“ worden? Vielleicht hatte jemand die Rankings der Gehirnchirurgen frisiert, damit er in ihrem Wartezimmer landen konnte? Denn nur so konnte er mit Brugger Bekanntschaft machen und nur so konnte er Magnussens Hinterlassenschaften finden, die wohl explizit an ihn gerichtet waren.
Und was war mit den Zufällen, dass Emmas Mutter ein Dialysegerät im Haus herumstehen hatte und dass ihr Vater einstmals unwissentlich den perfekten Raum für die Zeitreise gebaut hatte? Diese Sachen waren praktisch, aber er hätte sich notfalls ein solches Gerät kaufen und einen passenden Raum mieten können. Aber seltsam war dies alles schon.
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